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       # taz.de -- Seehofer beendet Aufnahmeprogramm: Unsolidarischer Staat
       
       > Der Innenminister verbietet Berlin die eigenständige Aufnahme von
       > Flüchtlingen. Das ist auch ein symbolischer Akt, um die Kommunen
       > kleinzuhalten.
       
   IMG Bild: Leoluca Orlando, der Bürgermeister von Palermo, und das Rettungsschiff „Alan Kurdi“ im Dezember
       
       Der Brief, den Bundesinnenminister Horst Seehofer an den Berliner
       Innensenator Andreas Geisel geschickt hatte, machte am Donnerstag viele
       wütend – unter anderem Berlins regierenden Bürgermeister Michael Müller
       (SPD). Aus „rechtlichen Gründen“ könne er dem [1][geplanten
       Landesaufnahmeprogramm für 300 Schutzsuchende] von den griechischen Inseln
       nicht zustimmen, hatte Seehofer geschrieben.
       
       Dabei geht es um mehr. Von der Nation halten Linke definitionsgemäß wenig
       (es sei denn, sie leben in Spanien oder Lateinamerika). Die Kommunen sind
       als politischer Bezugspunkt beliebter, das ist schon eine ganze Weile so.
       Denn hier lassen sich Formen direkter Demokratie erproben, hier kann die
       Zivilgesellschaft direkter politisch intervenieren.
       
       Porto Alegre, die brasilianische Heimatstadt der Weltsozialforen und
       entsprechend eine Zeit lang Sehnsuchtsort mancher Linker, war etwa in den
       90er Jahren dazu übergegangen, den kommunalen Haushalt unter direkter
       Beteiligung der Bevölkerung in „partizipativen Budgets“ aufzustellen. Oder
       die „Solidarity Cities“ in den USA – der Versuch, lokal eine
       einwanderungsfreundliche Politik umzusetzen, die eine eher repressive Linie
       der nationalen Regierung unterläuft. Unter Obama geschah dies eher still.
       Als Trump es sich hingegen in den Kopf setzte, über zwei Millionen
       „dreamer“, Kinder papierloser Einwanderer, abzuschieben, wurde die Idee der
       „Solidarity Cities“ noch beliebter – als Möglichkeit, im Kleinen an der
       Idee eines guten, weil offenen Amerikas festzuhalten.
       
       Auf das Modell geschaut hatten auch europäische Städte schon eine Weile.
       Besonderes Interesse kam auf, als sich 2018 eine rechtspopulistische Achse
       bildete, die mit dem Vorschlaghammer auf das Asylrecht losging.
       
       ## Solidarische Städte
       
       Damals regierte in Österreich Sebastian Kurz mit der rechtsextremen FPÖ. In
       Deutschland hatte Horst Seehofer es darauf angelegt, die AfD mit einem
       harten Rechtskurs anzugehen. Er suchte in der Migrationspolitik die offene
       Konfrontation mit Angela Merkel und kumpelte offensiv mit Ungarns
       Ministerpräsidenten Viktor Orbán.
       
       Dann wurde in Italien Matteo Salvini zum Innenminister gewählt. Die Achse
       Rom–Wien–München–Budapest stellte klar, dass sie Ernst machen wollte mit
       der Abschottung Europas. Als Erstes sollte die Seenotrettung im Mittelmeer
       unterbunden werden.
       
       Und da kamen die Städte ins Spiel. Es waren Städte mit linken
       Bürgermeistern wie Palermo oder Neapel, die sagten: Wir, als
       Stadtgesellschaft, stellen uns gegen die nationale Regierung und
       entscheiden uns für den Aufnahme von Flüchtlingen – wir haben Platz.
       
       Das strahlte aus, auch nach Deutschland. In Hunderten Städten entstanden in
       jenem Sommer Gruppen der „Seebrücken“-Kampagne. Sie drängten ihre
       Bürgermeister dazu, Aufnahmeplätze anzubieten. Immer mehr Städte schlossen
       sich dem „Solidarity Cities“-Netzwerk an. Bekannt wurde etwa Stephan Neher,
       der CDU-Bürgermeister von Rottenburg. „Wenn es drauf ankommt, ruf ich
       nachher schnell einen Busunternehmer an aus meiner Stadt, der fährt dann
       ehrenamtlich nach Italien und holt die 53“, sagte der – als 2019 53
       Gerettete auf dem Rettungsschiff „Sea-Watch“ festsaßen.
       
       ## Die Bereitschaft ist größer
       
       Der Impuls, Plätze anzubieten, während das Bundesinnenministerium auf die
       Bremse drückte (obwohl Seehofer in der Zwischenzeit deutlich kooperativer
       geworden ist als im Sommer 2018 während des offenen Konflikts mit Merkel),
       wurde von diesen Kommunen in einige Landesregierungen hineingetragen. Und
       die wiederum haben Aufnahmeprogramme beschlossen – die Seehofer nun
       ablehnt.
       
       Das kommt nicht von ungefähr. Die Gesellschaft ist in größeren Städten
       meist liberaler als die Bevölkerung des ganzen Landes. Die Bereitschaft zur
       Flüchtlingsaufnahme ist teils größer. Und sie drängt danach, auch politisch
       umsetzbar zu werden. In der EU wird über Möglichkeiten nachgedacht,
       Flüchtlinge (gegen Bezahlung) direkt in aufnahmewillige Kommunen schicken
       zu können. Und einige Bundesländern fordern das Recht, Aufnahmeprogramme
       auch ohne Zustimmung der Bundesregierung umsetzen zu dürfen.
       
       Für die nationalen Regierungen sind solche Modelle ein Affront. Die
       Kontrolle über die Einwanderung ist Kernbereich der politischen
       Souveränität – und ein wichtiges Instrument, um rechte Wählergruppen zu
       befrieden. Wenn [2][Seehofer nun Berlins Landesaufnahmeprogramm verbietet],
       dann ist das nichts anderes als die Verteidigung der Macht über die
       Migrationskontrolle gegen fortschrittlichere Teile der Gesellschaft.
       
       Der Autor ist Teil einer Forschergruppe, die für die
       Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Studie zu „Solidarity Cities“ in Europa
       erstellt.
       
       31 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Aufnahme-von-Schutzsuchenden/!5694910
   DIR [2] /Gefluechtete-in-Griechenland/!5694829
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
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