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       # taz.de -- Buch über Historie des Landlebens: Sehnsucht nach Unverfälschtem
       
       > Der Kulturgeograf Werner Bätzing zeichnet kühl die Zerrüttung des
       > Landlebens nach. Er forscht mit überschaubarem Erfolg nach Alternativen.
       
   IMG Bild: Am Sonntag wird die Natur in der Freizeit bürgerlich verklärt: Landpartie 1978 bei Kassel
       
       Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat
       enorme Städte geschaffen und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem
       Idiotismus des Landlebens entrissen.“ Dieser prophetische Satz steht im
       1848 verfassten „Kommunistischen Manifest“. Damals wohnten global 95
       Prozent der Menschen auf dem Land. 2008 waren es noch 50 Prozent. 2050 wird
       es nur noch ein Drittel sein.
       
       Mit Idiotismus meinte [1][Marx] zwar nicht Stumpfsinn. Doch das Landleben
       galt ihm wie vielen Fortschrittsoptimisten als wissenschafts- und
       moderneferner Raum. Das pulsierende Neue, von Kultur bis Technik, ereignete
       sich in den Städten. Daran wurde das Land gemessen – und war im Defizit.
       
       Die Geringschätzung des Landes als öde Provinz gilt schon lange als
       selbstverständlich. Doch historisch ist das Gefälle zwischen Stadt und Land
       in Europa noch nicht alt, so der [2][Kulturgeograf Werner Bätzing] in der
       Studie „Das Landleben“. Es datiert ziemlich genau aus der Zeit, in der das
       Kommunistischen Manifest erschien. Davor galten Stadt und Land als zwar
       verschiedene, aber gleichrangige Orte.
       
       Im Mittelalter waren Stadt und Land in Europa miteinander verflochten und
       „genauso innovativ oder modern“. Erst die Dampfmaschine revolutionierte das
       Verhältnis von Zentrum und Provinz. Die Manufakturen auf dem Land
       verschwanden, die Produktion zentralisierte sich in Fabriken. Aus Bauern
       wurden Proletarier. Und der Stern des liberalen Individuums ging auf, einer
       ganz und gar städtischen Figur.
       
       Genau in dem historischen Moment, in dem das Land als verstockt,
       konservativ und langweilig galt, machte es Karriere als Ort der Schönheit,
       der die Städter anzog und nun des Naturschutzes bedurfte. Das ist nur
       scheinbar paradox: Die Degradierung des Landes und die Ästhetisierung von
       Bergen, Feldern, Seen (und später die Entstehung des Tourismus) waren Teil
       des Gleichen. „Am Werktag wird die Natur in den Industriegebieten
       hemmungslos vernutzt, am Sonntag in der Freizeit verklärt“, so Bätzing, der
       im Übrigen erfreulich sparsam mit Urteilen haushaltet.
       
       ## Sonntagsspaziergang als Ritual
       
       Der Boom der [3][Zeitschrift Landlust], die einem städtischen Publikum ein
       Dorfidyll verkauft, ist eine späte Wiederauflage des verzückten
       bürgerlichen Blicks auf das scheinbar heile Landleben. Wie der Bürger im
       19. Jahrhundert, der den Sonntagsspaziergang zum Ritual machte, braucht der
       Städter im 21. Jahrhundert das Land als ungetrübten Ausgleich.
       
       Die neu erwachte Sehnsucht der Metropolenbewohner nach dem Land als Ort des
       Unverfälschten liest Bätzing als Echo von forciertem Neoliberalismus und
       globalem Markt. Auf der Rückseite der Idylle ist immer ein Schrecken
       eingraviert.
       
       „Das Landleben“ analysiert die Stadt-Land-Beziehungen seit Beginn der
       Zivilisation – skizziert ökonomische Prozesse, Kräfteverhältnisse und
       kulturelle Bilder. Das anschauliche Beispiel ist selten, die Abstraktion
       die Regel, die Lektüre eher anstrengend als lustvoll. Hier soll nüchtern
       und in akademischem Sound ausgelotet werden, wie das Land zu retten wäre,
       natürlich ohne wie ein Spaziergänger über das Feld zu laufen und über
       Glyphosat zu klagen.
       
       Seltsam randständig bleibt in diesem Panorama, wie politisch explosiv das
       Verhältnis von Stadt und Land ist. Der aggressive Rechtspopulismus hat die
       Differenz zwischen Zentren und flyover states mit Wucht politisiert und
       findet gerade bei Landbewohnern Anklang. Doch Trump & Co. bleiben hier
       unterbelichtet.
       
       ## Für die Dörfer sieht es finster aus
       
       In Deutschland gibt es zwar dank der mittelständischen Wirtschaft recht
       viele Jobs in Kleinstädten und jenseits der Metropolen. Doch für die Dörfer
       sieht es finster aus. Mehr als die Hälfte der Dorfkneipen hat in den
       letzten 25 Jahren dichtgemacht. Von fünf Dorfläden, die es 1990 gab,
       existiert heute noch einer. Abwanderung und die oft zu
       Folkloreinszenierungen verkommenen Traditionen vervollkommnen das Bild.
       Denn ohne Tradition erlischt das dörfliche Selbstbewusstsein.
       
       Erstaunlich ist der Befund, dass der Niedergang des Dorfes in Deutschland
       ein eher neues Ereignis ist. Vom Mittelalter bis in die frühen 1960er Jahre
       war es sich ähnlich – dann zerstörten (Auto-)Mobilität und staatliche
       Planungseuphorie das Dorf als Struktur, die Arbeit und Leben vereinte.
       
       Das Land ist so sukzessive zu einem Nicht-Ort geworden, zu etwas, was nicht
       urban ist. Wenn wir heute von Land reden, meinen wir drei Strukturen: die
       suburbs mit etwas Grün, die Bätzing eigenwillig „Zwischenstadtland“ nennt.
       Zweitens: die agrarindustriellen Flächen, die mit tätiger Hilfe der EU von
       immer weniger und immer größeren Firmen beherrscht werden und in der
       GPS-Zukunft digital bewirtschaftet werden. Und schließlich das, was wir für
       Natur halten, aber korrekter als derzeit unbewirtschaftete Kulturlandschaft
       zu bezeichnen ist.
       
       Kurzum: Es ist möglich, dass das Dorf und das Landleben vollends untergehen
       – und damit Orte, die jahrhundertelang Leben, Arbeit und Natur miteinander
       verbanden. Wäre das Verschwinden so schlimm (abgesehen davon, dass es uns
       nostalgisch stimmen würde)?
       
       Ja, meint der Autor, denn ohne Landleben vergisst die Hyperzivilisation,
       dass ihre „Erfolge auf Natur und verantwortlichem Wirtschaften aufbauen“.
       Das Landleben ist so gesehen eine Art Rückversicherung gegen „die
       selbstzerstörerischen Prozesse der Moderne“.
       
       ## Kreative Infrastrukturpolitik
       
       Am Ende skizziert der Autor fünf recht schwammig gehaltene Leitbilder, die
       das Land bewahren oder rekonstruieren sollen. Das reicht von sanftem
       Tourismus über lokale Produktion bis zu kreativer Infrastrukturpolitik.
       Nichts davon ist ganz neu. Aussicht auf Rettung versprechen vielleicht
       Städter, die vor horrenden Mieten aus den übervölkerten Metropolen fliehen
       – allerdings nur, wenn sie die Existenz auf dem Land „nicht nur fingieren,
       sondern leben“ und das Land nicht als Idyll missverstehen.
       
       Auch der Aufschwung der ökologischen Landwirtschaft macht Hoffnung,
       allerdings erkennt Bätzing kühl die enorme Kraft der „Zwänge der
       globalisierten Marktwirtschaft“ und in den viel gelobten regionalen
       Kreisläufen oft nur Marketingstrategien der Lebensmittelkonzerne.
       
       So ist Besserung nicht in Sicht. Man kann dies für ein Manko des Buches
       halten. Eher allerdings spiegelt dieses Manko die trüben Aussichten des
       Landlebens wider.
       
       2 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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