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       # taz.de -- Debatte um Integration: Einheimische Migranten?
       
       > Nach Ausschreitungen wie in Frankfurt oder Stuttgart wird über die
       > Herkunft der jungen Leute diskutiert. Ein völlig verkehrter Ansatz.
       
   IMG Bild: Jugendliche im Schlossgarten in Stuttgart Ende Juni
       
       Waren die Attentäter von Halle und Hanau „schlecht integriert“? Oder die
       Kinderschänder von Lügde und Bergisch-Gladbach? Haben die
       Pegida-Mitläufer*innen „Integrationsprobleme“? Offenkundig haben diese
       Leute Defizite in Bezug auf Grundwerte dieser Gesellschaft, aber niemand
       spricht von „Integration“ – weil die Täter ja „Deutsche“ sind und sich
       daher die Frage der „Integration“ nicht stellt?
       
       Nun stellt man fest, dass bei den [1][Ausschreitungen in Frankfurt am Main
       und in Stuttgart] ein nicht geringer Teil der jungen Leute einen
       „Migrationshintergrund“ hat – und schon geht es reflexartig um
       „Integration“. Es bringt uns in der Erklärung der Vorgänge nicht weiter,
       offenbart aber, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung von Polizei, Medien
       und Politik in der Integrationsdebatte der 1990er Jahre steckengeblieben
       ist.
       
       Damals waren in der Tat noch die meisten jungen Erwachsenen „mit
       Migrationshintergrund“ selbst zugewandert und sie waren nur eine Minderheit
       unter den jungen Erwachsenen in ihrer Altersgruppe. Das ist heute völlig
       anders: Bei den unter 21-Jährigen in Frankfurt und Stuttgart (und vielen
       weiteren süddeutschen Städten) hat deutlich mehr als die Hälfte einen
       „Migrationshintergrund“, es wäre also allein schon demografisch seltsam,
       wenn sie bei den Feiern nicht oder kaum dabei gewesen wären.
       
       Ebenso reflexartig meint man „gewaltbereite Geflüchtete“ zu erkennen, dabei
       ist der weit überwiegende Teil dieser jungen Leute – achtzig bis neunzig
       Prozent! – in Deutschland geboren, sie haben möglicherweise nur ein
       Großelternteil, das aus dem Ausland nach Deutschland gekommen ist – was
       übrigens auch aus der Schweiz sein kann.
       
       Die [2][Zuschreibung „Migrationshintergrund“] erklärt sehr wenig, sie
       überbetont aber das „Andere“ und „Fremde“ in Bezug auf junge Menschen, die
       so einheimisch sind, dass man ihnen nicht erklären muss, wie das so läuft
       in Deutschland und in Hessen oder dem Schwabenlande. Und spricht die
       Tatsache, dass auch für diese Jugendlichen der Alkohol zum Ausgehen und
       Feiern dazugehört, nicht gerade für „gelungene Integration“ (zumindest in
       den Teil der „Leitkultur“, der eine gute Party vor allem an der Menge des
       konsumierten Alkohols misst)?
       
       Sie verstellt aber auch den Blick auf möglicherweise tatsächlich relevante
       Erklärungen für die Ereignisse von Stuttgart und Frankfurt: Für
       [3][Menschen mit einem nichtdeutsch klingenden Namen] und/oder
       „nichtweißen“ Aussehen sind „Othering“-Erlebnisse, in denen sie also als
       „anders“ und „fremd“ gekennzeichnet werden, zu jeder Zeit und überall
       möglich. Sie beginnen in der Schule und reichen von der Wohnungssuche über
       das Ausgehen (wie viele Diskotheken in Frankfurt und Stuttgart lassen
       prinzipiell keine „arabischen“ und „afrikanischen“ Gäste rein?) bis zur
       Bedrohung von Gesundheit und Leben – Hanau ist potenziell überall.
       
       ## Rassismus strukturell verankert
       
       Anders als früher erleben aber heute auch die nicht als „migrantisch“
       etikettierten Jugendlichen diesen Rassismus mit: Es sind ihre Freunde, die
       in die Disko nicht eingelassen werden oder der Polizei ihre Papiere zeigen
       müssen, während sie danebenstehen und dies nicht erleiden müssen – einfach
       nur, weil sie anders aussehen. Es mag sein, dass Corona die Frustration
       noch erhöht hat – sicher ist, dass es viel Wut gibt und die Polizei kein
       gutes Standing hat unter jungen Menschen in größeren Städten.
       
       Rassismus ist in der Gesellschaft strukturell verankert, das haben Studien
       vielfach nachgewiesen. Die Wut kommt aber vor allem daher, dass sich
       staatliche Institutionen wie Schulen, Ämter und die Polizei noch immer
       regelrecht weigern, sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen.
       
       Der Vorwurf des Rassismus gegen einen Lehrer oder eine Lehrerin ruft in der
       Regel die massive Gegenwehr des gesamten Apparats auf den Plan – meist mit
       dem Ergebnis, dass es die Betroffenen sind, die die Schule verlassen
       müssen. Das sieht bei der Polizei nicht anders aus, hier werden sogar
       Nazisymbole kollegial gedeckt und jede Klage gegen exzessive Gewalt wird
       mit einer Gegenklage beantwortet.
       
       Kaum eine Schul- oder Polizeibehörde in Deutschland verfügt über einen
       etablierten Mechanismus des professionellen Umgangs mit Rassismusvorwürfen
       von Betroffenen, also zum Beispiel der Mediation und der unparteiischen
       Ermittlung oder entsprechendem Training als Teil der Ausbildung. Noch immer
       ist eine demütigende Behandlung in Ausländerbehörden gang und gäbe – und
       kein Innenministerium interveniert.
       
       ## Versagen der Sicherheitsbehörden
       
       Hinzu kommen gesellschaftspolitische Traumata, deren langanhaltend
       verstörende Wirkung die deutsche Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis nehmen
       will: dass die Wiedervereinigung mit einem deutlichen Anstieg rassistischer
       Angriffe einherging, das völlige Versagen der Sicherheitsbehörden bei der
       Aufklärung der NSU-Morde und der Bestsellererfolg des unsäglichen
       Sarrazin-Buchs, um nur drei Beispiele zu nennen. Auch die Versuche von
       Politiker*innen, sich durch migrationskritische Äußerungen zu profilieren –
       woran sich auch die derzeitigen Lichtgestalten der Unionsparteien, Markus
       Söder und Jens Spahn, gerne und aktiv beteiligt haben –, tragen dazu immer
       wieder bei.
       
       Auf der einen Seite werden die aktuellen demografischen Realitäten
       ignoriert – offenbar ist etwa der CSU nicht klar, dass rund die Hälfte der
       städtischen Erstwähler*innen bei der letzten bayerischen Landtagswahl
       Einheimische mit einem „Migrationshintergrund“ waren –, auf der anderen
       Seite geht jede Differenzierung verloren, wenn einmal das Etikett
       „Migration“ draufklebt.
       
       Bei der Gewalt von Frankfurt und Stuttgart kommen verschiedene Gründe
       zusammen, aber „Integrationsdefizite“ gehören sicher nicht dazu. Nicht
       „Migration“ und „Migrationshintergrund“ sind das Problem, sondern sie
       fortwährend zu einem Problem zu erklären und sich nicht mit dem strukturell
       verankerten Ausschluss eines so großen Teils der deutschen Bevölkerung zu
       beschäftigen.
       
       6 Aug 2020
       
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