# taz.de -- Gewalt beim Turnen: Schläge und Essensentzug
> Immer mehr Turnerinnen aus Großbritannien, Kanada und Australien
> berichten über Misshandlungen. Deutsche Athletinnen fehlen – noch.
IMG Bild: Hat mit einem Tweet viel bewirkt: Vizeweltmeisterin Becky Downie aus Großbritannien
Es hätte so schön sein können dieser Tage: Superstar Simone Biles, die
viele Goldmedaillen umgehängt bekommt und lächelt. Vielleicht eine Deutsche
in einem olympischen Finale, das in diesen Tagen in Tokio stattgefunden
hätte. Turnen ist eine jener Sportarten, die nur alle vier Jahre, bei den
Olympischen Spielen eben, viel Aufmerksamkeit erfährt. Davor und danach
schaut kaum jemand hin, und genau das wäre momentan einigen
Verantwortlichen sicher lieber.
Doch seit der Veröffentlichung der Dokumentation [1][„Athlete A“] über den
Missbrauchsskandal um den US-amerikanischen Teamarzt Larry Nassar vor gut
einem Monat gibt es fast täglich neue Schilderungen über den
Trainingsalltag: Sie handeln von [2][Erniedrigung und Beleidigung,
Kontrolle und Druck], von ständigem Wiegen, Essensentzug, Training mit
Verletzungen, Wettkämpfen mit Ermüdungsbrüchen und vereinzelt von Schlägen.
Den Anfang machte die Britin Becky Downie, 28, aktuell Vizeweltmeisterin am
Barren, mit einem [3][Tweet], in dem sie eine „Kultur, die nicht die
Gesundheit und das Wohlbefinden des Athleten an die erste Stelle setzt“,
verurteilt. Was sich seitdem unter dem Hashtag #gymnastAlliance sammelt,
ist im Grunde nicht neu, aber in dieser Massivität beispiellos: Ehemalige
und Aktive, darunter viele hochdekoriert, berichten von einer „Kultur der
Angst“ – und das von Großbritannien über Kanada bis Australien.
Deutschland ist auf dieser Karte noch ein weißer Fleck. Bundestrainerin
Ulla Koch ist, auf die Schilderungen der Britinnen angesprochen, nicht
grundsätzlich überrascht. Aber doch über den Zeitpunkt: „Ich hab gedacht,
dass solche Dinge dort der Vergangenheit angehören.“ Sie glaubt schon,
„dass es immer wieder Menschen gibt, die verbal ihre Macht ausüben, um
Druck auszuüben und Leistung zu fordern“. Aber das sei eben die Differenz
zwischen besseren und schlechteren Trainern. Diese brauchen, sagt sie,
„Fingerspitzengefühl“ und „Vernunft“. Doch für viele sei der Druck hoch,
mit befristeten Verträgen und in einem System, das „nur Gold, Silber,
Bronze belohnt“.
## Die Freude am Turnen erhalten
Koch kennt die Kultur auch aus eigener Anschauung: „Ich kannte es früher
gar nicht anders. Wenn man als junger Trainer damals auf die deutsche oder
die internationale Bühne gegangen ist, da herrschte schon ein anderer Ton.
Aber das ganze Erziehungssystem, ich bin jetzt 45 Jahre in dem Beruf, hat
sich verändert.“
Koch ist seit 2005 Bundestrainerin, die erfolgreichste seit der
Wiedervereinigung – mit Olympiabronze, einem WM-Titel und dem sechsten
Teamrang bei den Spielen 2016. Heute sei sie überzeugt, dass es vor allem
darum geht, dass ihren Athletinnen die Freude und der Spaß, der sie als
Kinder irgendwann zum Turnen gebracht hat, erhalten bleiben. Zumindest in
der aktuellen deutschen Generation scheint das funktioniert zu haben: Kim
Bui ist 31, Elisabeth Seitz 26, Pauline Schäfer und Sophie Scheder 23 Jahre
alt, kurzum: das komplette Team von Rio ist noch dabei.
Weltweit haben Verbände nun reagiert, sich überrascht und bestürzt gegeben
und Untersuchungskommissionen versprochen. Der Weltverband FIG übt sich in
Sonntagsreden: „All voices matter“, ließ Präsident Morinari Watanabe,
IOC-Mitglied aus Japan, wissen und verwies auf die 2019 gegründete
Ethik-Stiftung, an die man sich wenden könne.
Auch der Deutsche Turner-Bund (DTB) hat – gewissermaßen vorsorglich –
reagiert und sein Präventionskonzept zum Schutz vor sexualisierter Gewalt
früher als ursprünglich geplant vorgestellt. 67 Seiten mit vielen
wohlklingenden Sätzen, aber auch mit einem konkreten Interventionsleitfaden
und unabhängigen Ansprechpartnern für die rund fünf Millionen Mitglieder
des zweitgrößten deutschen Sportverbandes.
Alfons Hölzl, DTB-Präsident und selbst A-Trainer, sagt, er wisse darum,
dass ein papierenes Konzept allein keine schlechte Praxis zum Verschwinden
bringt: „Wir müssen sehr wachsam sein.“ Er wolle mit dem Konzept auch eine
„Kultur des Hinschauens schaffen“. Im Moment immerhin schauen viele hin.
4 Aug 2020
## LINKS
DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=JzeP0DKSqdQ
DIR [2] /Missbrauch-bei-den-US-Turnerinnen/!5680042
DIR [3] https://twitter.com/Bdownie/status/1281312756415827968/photo/1
## AUTOREN
DIR Sandra Schmidt
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