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       # taz.de -- Renaissance von Secondhand-Mode: Auf Schatzsuche
       
       > Secondhand-Mode verspricht emotionalen Mehrwert. Der Umsatz wird sich in
       > den nächsten fünf Jahren auf 51 Milliarden Dollar verdoppeln.
       
   IMG Bild: In Moskau begutachtet ein Paar vor der Auktion bei Christie's ein Chanel-Kleid von 1980
       
       Es gibt da diese Werbekampagne eines Luxusuhrenherstellers, die einem hin
       und wieder im Hochglanzprint begegnet: Ein altersgemäß überdurchschnittlich
       fein gekleidetes Kind schaut sein Elternteil freundlich-wohlerzogen an, das
       Elternteil blickt liebevoll zurück (ist es ein Mädchen, schaut es seine
       Mutter an; ist es ein Junge, blickt der zu seinem Vater hoch und
       umgekehrt).
       
       Bemerkenswert an dieser seit 1996 offenbar höchst erfolgreichen Kampagne
       ist der zugehörige Slogan. An dieser Uhr, wird dort erklärt, erfreue man
       sich [zwar] sein ganzes Leben lang. Sie gehöre einem aber niemals ganz
       allein, man bewahre sie stets schon für die nächste Generation auf.
       
       So fröhlich und – für mitteleuropäische Verhältnisse – geradezu
       überraschend offenherzig kommt da der Thanatos daher: Eine kostspielige
       Uhr, für die das Wissen um ihre Weitergabe an die Nachfahren zum
       Alleinstellungsmerkmal herausgestellt wird. Was auf einer
       archaisch-universellen Ebene natürlich sehr gut verfängt, Familiengründung
       als Weitergabe von Heritage. Je nach ökonomischer Stellung eben mit mehr
       oder weniger exklusiven Gütern.
       
       Die Behauptung, es gebe eine Zeitlosigkeit der Mode, einen klassisch guten
       Geschmack, hält zumindest der britische Modetheoretiker Malcolm Barnard für
       einen Beitrag zur Identifikationsstiftung und Etablierung einer dominanten
       Klasse.
       
       ## Suggerierte Zeitlosigkeit und modisches Prinzip
       
       Vielleicht haftet der Mode, die zu allem Überfluss auch noch die Befreiung
       von jeglichen gottgegebenen Umständen verspricht, auch deshalb noch immer
       etwas Anrüchiges an, mit dem sich jene beschäftigen sollen, die (ökonomisch
       oder intellektuell) unfähig sind, das Wahre, Schöne und Gute zu
       zelebrieren.
       
       Doch zurück zur Kampagne: Neben einer suggerierten Zeitlosigkeit formuliert
       die eben trotzdem auch ein modisches Prinzip, nämlich das der Neubewertung
       von Kleidung und Accessoires. Jenen, die nun nicht auf Chronografen und
       andere Erbstücke aus Familienbesitz hoffen dürfen, bleibt eine andere
       Option, am Verwertungskreislauf der modischen Waren zu partizipieren.
       
       Noch Ende 2019, Anfang 2020 konnte man in den Trendprognosen der
       Branchenblätter einhellig lesen, was in diesem Jahr den Handel weiter
       bestimmen sollte: Secondhand. Und sich eventuell kurz wundern. Nanu, sind
       denn schon die rechnerischen zwei Dekaden rum, nach denen plötzlich wieder
       neu erscheint, was damals so langsam niemand mehr sehen wollte?
       Tatsächlich, der große Boom der Secondhandmode, die zeitweilig ganze
       Straßenzüge säumte, ebbte Ende der 90er, Anfang der 2000er Jahre allmählich
       wieder ab.
       
       Nun also ist Secondhand als ernstzunehmender Wirtschaftsfaktor zurück. Laut
       thredUPs 2019 Retail Report, basierend auf den Daten des großen Analysten
       GlobalData, ist der Wiederverkauf von Gebrauchtem, im Englischen schlicht
       resale, in den vergangenen drei Jahren 21-fach so stark gewachsen wie der
       Sektor neuer Bekleidung.
       
       ## Die absoluten Zahlen beeindrucken
       
       Das heißt erst einmal noch nicht viel, geht man von einer anfangs eher
       brachliegenden Branche aus (zumindest im Westen, wo ein Großteil der
       Vintagemode auf den privaten Verkauf im Internet abgewandert ist). In
       absoluten Zahlen wirkt die Prognose beeindruckender – auf 51 Milliarden
       US-Dollar, so die Schätzung, dürfte sich der Umsatz von Secondhandmode in
       den kommenden fünf Jahren verdoppeln.
       
       Die Coronakrise hat dem Boom einen kleinen Knick verpasst und dabei einige
       Ambivalenzen der Branche offengelegt, wie auch an dieser Stelle berichtet
       wurde: Plötzlich räumten alle ihre Schränke aus, und die
       Textilverwertungsbranche ächzte unter der Kleiderflut, von der nur ein
       Bruchteil in den westlichen Secondhandmarkt fließt und vieles gleich in die
       Faserverwertung (auch hierfür ist ein Minimum an textiler Güte vonnöten)
       oder auf die asiatischen und afrikanischen Textilmärkte.
       
       In Kenia beispielsweise, wo ob der Coronapandemie vorübergehend ein
       Importstopp auf gebrauchte Kleidung verhängt wurde, war und ist Secondhand
       oder Mitumba, wie es im Land heißt, kontinuierlich ein wichtiger
       Bestandteil der heimischen Modelandschaft. Gleichzeitig könnten durch den
       Stopp der importierten Kleiderberge nun gerade die örtlichen Designerinnen
       und Designer profitieren.
       
       Die Prognosen ob des Secondhandrevivals dürften trotzdem nicht völlig
       fehlgehen. Gerade etablierte Modeanbieter integrieren Gebrauchtes immer
       selbstverständlicher in ihr Sortiment. Von Filialisten wie Urban Outfitters
       bis zum reinen Online-Modegiganten ASOS wird Secondhandkleidung angeboten,
       und H & M kooperiert nun mit dem schwedischen Unternehmen Sellpy, bei dem
       man zum Beispiel im Online-Shop mit ein wenig Glück neben No-Name-Sneakers
       gleichberechtigt mal ein Paar Chanel-Ballerinas im Sortiment findet.
       
       ## Kuratierte und auktionierte Secondhandmode
       
       Auch das ist übrigens gar nicht so neu: In den frühen 2000er Jahren bot der
       schwedische Filialist schon einmal sorgfältig kuratierte Secondhandmode
       neben den bekannten eigenen Kollektionen zum Kauf an. Fast Fashion und
       Kleidung aus der zweiten Umdrehung in einer Einkaufstasche, das trifft es
       vielleicht ganz gut. Rechnerisch schont es bereits die Ressourcen, ein
       einzelnes Kleidungsstück nur einige Monate länger zu tragen. Wird der
       Einkauf zum guten Gewissen als Ausgleich für ein schlechtes, gerät eine
       solche Rechnung allerdings schnell an ihre Grenzen.
       
       Ob man die Welt mit Secondhandmode wird retten können, steht ohnehin auf
       einem anderen Blatt als die Frage, ob sie ihren Trägerinnen und Trägern
       zumindest dieses Gefühl vermitteln kann. Wohl erst unter Millenials und der
       Generation Z, die Nachhaltigkeitsthemen als selbstverständlichen Anspruch
       formulieren, konnte sich ein so eigentlich urbekanntes Prinzip zur großen
       Hoffnung der Branche aufschwingen.
       
       Am einen Ende dieses Extrems, wo die Strahlkraft des Originals ungebrochen
       ist, wird Luxussecondhand für sechsstellige Beträge im Auktionshaus
       versteigert – erst im Juni kam ein Paar Air-Jordans-Sneakers von 1985 im
       New Yorker Sotheby’s für rund eine halbe Million US-Dollar unter den
       Hammer.
       
       ## Investment-Bags neben Alten Meistern
       
       Alteingesessene Auktionshäuser nehmen inzwischen ganz selbstverständlich
       gebrauchte Mode und Streetwear in ihre Kataloge auf, wie Alice Fisher im
       Guardian berichtete: „Viele verkaufen nun Skateboards genauso wie Picassos
       und schaffen Handtaschenabteilungen neben solchen für Antiquitäten und
       Alten Meistern.“
       
       Am anderen Ende kann man beobachten, wie Bekleidung ohne oder mit wenig
       aufsehenerregender Herkunft nun regelabelt wird. Den Floh- und
       Kleidermarktcharme hat die gebrauchte Kleidung elegant abgestreift – für
       den Preis, dass sie corporate wird, sich also irgendwie einem Unternehmen,
       Logo oder zumindest doch Label zuordnen lässt. Vielleicht braucht es das in
       ausgesprochen visuellen, gleichsam maximal unübersichtlichen Zeiten.
       
       In beiden Szenarien spielt das Entdecken eine Hauptrolle, denn uneroberte
       Territorien gibt es in dieser Welt ja angeblich kaum mehr: Zwar sind Kleid,
       Mantel, Schuh und Shirt niemals für einen persönlich gemeint gewesen und
       erwartungsvoll aufbewahrt worden. Aber eine andere Art von emotionalem
       Mehrwert kann Secondhandmode hervorragend selbst herstellen, erscheint sie
       doch immer im Zusammenhang des nicht schon pro forma festgelegten
       Einzelstücks, das es wie einen Schatz zu heben und in einen neuen Kontext
       zu setzen gilt.
       
       4 Aug 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina J. Cichosch
       
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