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       # taz.de -- Jahrmarkttheater in Bostelwiebeck: Philosophie am Lagerfeuer
       
       > Das Jahrmarkttheater in Bostelwiebeck bespielt den heimischen Hof.
       > Coronabedingt geht es in dem Stück „Das Gute“ um die Frage: Wie leben wir
       > richtig?
       
   IMG Bild: Lieblingsrolle: Autor und Regisseur Thomas Matschoß sitzt wieder als „Oma Sanne“ auf dem Dach
       
       Bostelwiebeck taz | Das Gute an Corona könnte sein, dass die pandemischen
       Einschränkungen dazu anregen, sich auf Wesentliches zu konzentrieren, auf
       das wirklich Wichtige. Das gute Leben. Das ist zum einen wohl das
       angenehme, sichere, egoistische Leben, zu dem eine individualistische Welt
       erzieht. In Krisenzeiten wird aber auch moralisches Handeln wieder
       verstärkt mit angenehmen Gefühlen des guten Gewissens verknüpft. Dank
       solcher moralischen Belohnungsemotionen wird das gute Leben auch im Alltag
       als eine sozial-ethische Kategorie deutlich.
       
       Dafür will das Jahrmarkttheater im 40-Seelen-Dorf Bostelwiebeck, Landkreis
       Uelzen, werben, also Kooperations- wie Hilfsbereitschaft, Friedfertigkeit,
       Wir-Gefühle, Empathie, globales Verantwortungsbewusstsein und so weiter
       feiern als das wahre Gute und damit Schöne. Verbunden wird das in der
       ersten Produktion auf dem heimischen Hof überhaupt mit Ansprachen und
       Liedern der Freude, endlich wieder mit Live-Publikum Theater machen zu
       dürfen. Als anekdotisch charakterisiert Autor Thomas Matschoß den Abend,
       der schlicht „Das Gute“ betitelt ist. Es geht um die zentrale
       Menschheitsfrage: Wie leben wir richtig?
       
       Über zwölf Sommer hatte Matschoß seine volkstheatralen
       Freiluftlustbarkeiten auf einem Anwesen in Wettenbostel inszeniert, eine
       ähnlich lockere Schüttung ehemals landwirtschaftlich genutzter Höfe in der
       Lüneburger Heide. Bei wachsendem Zuschauerzuspruch wurden die Produktionen
       dort immer aufwendiger, teurer – und künstlerisch vorhersehbarer.
       
       „Irgendwann hatten wir auch die Spielmöglichkeiten jeder Ecke des Geländes
       ausgeschöpft“, so der Regisseur. Kleiner, intimer, persönlicher, ästhetisch
       herausfordernder will das Team weitermachen und nicht mehr allabendlich
       250, eher 150 Zuschauer zum Open-Air-Wandeltheater laden.
       
       Die gerade selbst erforschte Geschichte des eigenen Gehöftes sollte zur
       Neuerfindung des Jahrmarkttheaters mit Szenen aus Stücken von Anton
       Tschechow verknüpft werden, das Publikum dabei durch die Räume wandeln, in
       Keller steigen und frei über das 12.000 Quadratmeter große Gelände
       flottieren, auf dem frei lebende Schweine grunzend grasen, Hühner
       herumpicken, Katzen durchs Gebüsch zischen und der Hofhund die Grenzen des
       Landlust-Idylls lauthals bewacht.
       
       „Wegen Corona mussten, sollten, wollten, durften, konnten wir unser Konzept
       so ändern, dass es schlimmstenfalls auch als Zoom-Konferenz online
       funktioniert hätte“, erklärt Ausstatterin Anja Imig. Die Stiftung
       Niedersachsen und das Niedersächsische Kulturministerium nahmen ihre
       33.000-Euro-Förderung daher nicht zurück, nur die geplanten Einnahmen in
       gleicher Höhe sind in Covid-19-Tagen nicht zu erwirtschaften.
       
       Dank gelockerter Coronaverordnungen können nun aber immerhin jeweils 60
       Zuschauer die in zehn Probentagen an frischer Luft entwickelte Aufführung
       besuchen. Der Eintritt ist frei, Spenden sind erbeten. Denn noch fehlen gut
       7.000 Euro, um alle Kosten begleichen zu können. 650 Euro fanden sich bei
       der Premiere im Geldsammelhut. Gerade auch die 17 beteiligten
       soloselbstständigen Musiker, Schauspieler und Veranstaltungstechniker
       freuen sich über die Performance im Ausnahmezustand: Statt ganz ohne
       Sommerengagement dazustehen, bekommen sie nun wenigstens halb so viel Geld
       wie vereinbart, müssen aber auch nur halb so viel Zeit für Proben und
       Auftritte investieren.
       
       Wie es für die Veranstalter weitergeht? Der zum Theater ausgebaute Kuhstall
       kann seit dem Kultur-Lockdown im März nicht mehr genutzt werden, gerade die
       Absage der Premiere eines Recherchestücks über die völkische Landnahme in
       Niedersachsen schmerzte. Derzeit entsteht ein Liederabend gegen die Angst,
       doch nur 20 Zuschauer dürfen in virensicherer Distanz auf den 100
       vorhandenen Plätzen sitzen, das rechnet sich einfach nicht. Fielen die
       Einnahmen bis Ende des Jahres weg, „dann müssen wir halt an unsere Rente
       gehen“, so Imig.
       
       Erst mal aber baute sie noch einen Theaterwagen mit ausklappbarer Bühne,
       einer Fensterfront für Puppentheater und einer für Imbissangebote, die
       Innenausstattung ist auch für Lesungen zu nutzen. Übers Land fahren wollen
       die Jahrmarkttheatermacher damit und auf Märkten oder Dorfplätzen
       gastieren.
       
       Jetzt steht der blau designte Anhänger erst mal im Zentrum von „Das Gute“.
       Als Konzertpodium, Gastronomieinsel und Auftrittsort. Von dort lockert
       Matschoß die in gebührendem Coronaabstand platzierten Besucher in Gestalt
       seiner Lieblingsrolle, der 100-jährig mit unbequemen Wahrheiten
       herumtüdelnden Oma Sanne, und intoniert ein Lied, bei dem der Refrain mit
       dem bösen Wort „Corona“ gnadenlos stumm gesungen und zudem durch harsch
       gitarrierte Akkordschläge attackiert wird. Auf dass die pandemische
       Bedrohung mal für 90 Minuten schweigt, um in ganz andere Territorien
       existenzieller Fragen vordringen zu können. Platz für das Gute.
       
       ## Platz für das Gute
       
       Blond perückt, unschuldsweiß gekleidet – so plaudert und singt sich ein
       Schauspielerinnenquintett ins Thema hinein. Das Gute sei doch keine leere
       Worthülse, durchaus mehr als die Abwesenheit des Schlechten, heißt es,
       gemeint sei doch das anständige Leben im Sinne der Gemeinschaft.
       Naziaufmärsche verhindern, sich berühren, den Sozialstaat pflegen – so was
       gehöre dazu. Die Liste, was gut zu finden ist, wird länger und länger. Eine
       Frage dabei immer drängender: Warum finden wir dies oder das gut? Sind die
       Kriterien dafür ausgedacht oder bestehen sie unabhängig von den einzelnen
       Menschen?
       
       Wie das Jahrmarkttheater sich dem Begriff und den etwas missionarischen
       Ausformulierungen nähert, ähnelt dem alten Platon, der das Gute an sich als
       eine metaphysische Idee verstand, nur den Abglanz davon im irdisch Guten
       können wir Menschenkinder entdecken und in Bostelwiebeck propagieren
       lassen. Oder ist das Gute subjektiv statt absolut und das Jahrmarkttheater
       subversiver Hinweisgeber für einen Lernprozess, an dessen Ende das Gute
       stehen könnte, als erlernte Tugend und Haltung zur Welt?
       
       Leider wird das alles nicht recht deutlich und damit fehlt auch der Kontext
       für die vorgetragenen Texte etwa von Richard Ford, Lars Gustaffson und
       Martha Nussbaum. Sie bleiben literarische Anekdoten.
       
       ## Kampf um Aufmerksamkeit
       
       Einige Regieideen dieses fix collagierten, dramaturgisch allzu spartanisch
       ausgearbeiteten Abends verfehlen ihre Wirkung deutlich, aber ein Aspekt des
       Bösen ist eindrucksvoll inszeniert. Schillers Franz Moor und Shakespeares
       Richard III. werden vorgestellt als in ihrer Anomalität ausgegrenzte
       Selbsthasser, die zu Machtmonstern mutieren. Derweil kämpfen auch die
       Schauspielerinnen gegeneinander um maximale Aufmerksamkeit beim Publikum.
       
       Höhepunkt des Abends ist eine Sequenz aus dem ursprünglich geplanten Stück.
       Das Publikum ist zwischen Hofteich und den ehemaligen Schweineställen
       platziert und sieht in den Fenstern des Hauptgebäudes wie die
       Darstellerinnen ein Tschechow-Gesten-Ballett der schon melancholisch
       gefärbten Sehnsucht nach dem guten Leben zelebrieren. Theatralikerinnen des
       selbst vermasselten Glücks sind zu sehen.
       
       Artikuliert werden dabei Zitate aus den komödiantischen Klassikern über
       unterschiedlich scheiternde Aufbrüche. Die lakonisch im sprachkritischen
       und doch noch satt philosophischen Resümee münden, denn was bedeute schon
       die Frage nach dem Guten: „Das ist, als wollte man fragen: Was ist eine
       Mohrrübe? Eine Mohrrübe ist eine Mohrrübe, mehr ist dazu nicht zu sagen.“
       Das aber wäre auf so unendlich vielfältige Art zu zeigen – mit
       Theatermitteln. So macht „Das Gute“ schon jetzt Lust auf die hoffentlich
       2021 mögliche Tschechow-Expertise von Matschoß & Co.
       
       Der Abend endet am Lagerfeuer. Ein letztes Mal versinkt die Sonne idyllisch
       am Horizont. „Im nächsten Jahr werden dort zehn Windkrafträder stehen“,
       bedauert Matschoß, im Gemeinderat auf einem Platz der Grünen ein Kritiker
       der Ansiedlung. Da lauert also allerfeinst ein neues Thema zur
       Widersprüchlichkeit des Guten: Werden die Dinger doch lärmend die
       Landschaft verschandeln, sind aber ein guter Beitrag für die Energiewende
       und bereichern die Konten der Grund-und-Boden-Besitzer wie Teilhaber.
       
       4 Aug 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Fischer
       
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