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       # taz.de -- Frühchen und die Pandemie: Vorwärts federn nach Corona
       
       > Eine dänische Studie belegt, dass die Ausgangsbeschränkungen die Zahl der
       > Frühgeburten drastisch reduzierte. Corona ist einmal mehr auch eine
       > Chance.
       
   IMG Bild: Belastung durch Corona sorgt nicht für mehr Frühgeburten – Luftverschmutzung vermutlich schon
       
       Vor ein paar Tagen stand in der [1][New York Times], dass die
       Frühgeburtenrate während der Corona-Lockdown-Zeit in vielen Ländern
       zurückgegangen sei. Ein Forscher*innenteam in Kopenhagen war angesichts
       sich leerender neonatologischer Stationen neugierig geworden und verglich
       die Zahl der landesweit von Mitte März bis Mitte April geborenen Frühchen
       unter 28 Wochen mit den Daten des gleichen Zeitraums in den vergangenen
       fünf Jahren. Wie sich herausstellte, waren es sagenhafte 90 Prozent
       weniger.
       
       Ähnliches berichteten Ärzt*innen aus Calgary, Rotterdam, Melbourne und
       Nashville, auch wenn ihre Schätzungen nicht ganz so drastisch ausfallen.
       Was sagt uns das? Im Gegensatz zu PatientInnen mit Herzbeschwerden, die
       sich aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus weniger zum Arzt
       trauten, werden Schwangere kaum Frühgeburten zu Hause absolviert und
       Brutkästen aus dem Terrarium im Wohnzimmer improvisiert haben, um nicht ins
       Krankenhaus fahren zu müssen.
       
       Die Forscher*innen vermuten, dass diese Ergebnisse einer Mischung aus
       [2][Stress], Luftverschmutzung und verschiedenen Krankheitserregern
       zuzuschreiben sind, denen werdende Mütter aufgrund des Lockdowns weniger
       ausgesetzt waren als sonst und deshalb seltener vorzeitige Wehen bekamen.
       Dabei könnte man meinen, dass doch gerade eine Viruspandemie und ein
       dadurch verursachter quasi-globaler Stillstand psychosozialen Stress
       verursachen würden, der sich auch körperlich niederschlägt.
       
       Für Ursachen der gesunkenen Frühgeburtenrate gibt es nur Mutmaßungen, keine
       Beweise, auch ist die dänische Studie noch nicht peer-reviewed. Und
       natürlich sind diese Berichte nur eine Momentaufnahme innerhalb
       komplizierterer Zusammenhänge. Dennoch erzählen sie etwas über, pardon, die
       Beschissenheit der Welt, wie wir sie kennen: dass es so unmittelbar
       spürbare Auswirkungen auf die Gesundheit zu haben scheint, wenn Autos und
       Wirtschaft stillstehen.
       
       ## Corona stellt und beantwortet Systemfragen
       
       Plötzlich, sagt eine Forscherin, habe die jahrelang stagnierte
       Ursachenforschung zum Thema Frühchen wieder neue Impulse bekommen:
       „Offenbar musste erst eine Virusattacke kommen, um uns auf die Spur zu
       bringen.“ Corona stellt viele Systemfragen und beantwortet manche gleich
       mit. Die vielleicht drängendste und gleichzeitig unerwartetste lautet: Wie
       verwundbar sind wir eigentlich?
       
       Das Frühchen-Phänomen legt nahe, dass Menschen erstaunliche Fähigkeiten zur
       psychischen Resilienz angesichts einer unerwarteten Bedrohung wie einer
       Viruspandemie besitzen, gegenüber diversen Umwelteinflüssen der
       industriellen Hochleistungsgesellschaft aber umso verletzbarer zu sein
       scheinen. Insofern ist, wie die Forscherin in der New York Times
       beschreibt, die aktuelle Krise als Chance für gesellschaftliche
       Transformationsprozesse gar nicht zu unterschätzen.
       
       Zumindest hierzulande scheint einfach, was vorher unvorstellbar war: dass
       es eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber der Bedeutung und Funktion von
       Wissenschaft gibt. Dass in Berlin beinahe über Nacht [3][anständige
       Fahrradwege] gebaut werden. Dass die tier- und [4][menschenverachtenden
       Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie] am öffentlichen Pranger
       stehen. Dass Homeoffice keine Ausnahme sein muss, sondern in vielen Fällen
       sogar besser funktioniert, wie eine in dieser Woche veröffentlichte Studie
       der DAK zeigt.
       
       Unter Fachleuten gibt es den Begriff des „,bounce forward“, also „vorwärts
       federn“, wenn das System nicht in den Normalzustand vor der Krise
       zurückzukehren versucht und zurückfedert („bounce back“), sondern sich
       anpasst und stärker wird. „Normal“ ist ohnehin längst Geschichte. Zwar
       liegen wir wieder am Strand und treffen Freund*innen an der Bar, aber wir
       wissen jetzt, dass das schon morgen vorbei sein könnte. Da lässt sich nur
       hoffen, dass uns das sensibilisiert für alles, was noch kommt.
       
       Zwei ausgewählte Klima-Meldungen dieser Woche: An einem seit 2016
       untersuchten Methanleck in der Antarktis haben sich deutlich weniger
       hungrige Mikroben angesiedelt als erwartet, das Gas kann weitgehend
       unkontrolliert austreten. Und am anderen Ende der Welt könnten zum Ende
       dieses Jahrhunderts die [5][Eisbären ausgestorben] sein. Vom Permafrost
       ganz zu schweigen. Ja, wir sind verwundbar, und der Planet stirbt uns
       gerade unwiderruflich unterm Hintern weg.
       
       Die Gruppe der Verharmloser*innen dieser Erkenntnis überschneidet sich
       wenig überraschend oft mit der jener, die Corona hauptsächlich als Zumutung
       empfinden und Solidarität als Schwäche – und das System auch sonst
       überallhin federn lassen wollen, nur nicht nach vorn. Vielleicht hilft
       ihnen ja das: Laut [6][neuen Erkenntnissen aus den USA] verringern
       Mund-Nasen-Masken die Viruslast dahingehend, dass eine mögliche Erkrankung
       leichter verläuft. Man schützt also nicht nur andere, sondern auch sich
       selbst.
       
       25 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.nytimes.com/2020/07/19/health/coronavirus-premature-birth.html?searchResultPosition=1
   DIR [2] /Entschleunigung-in-Zeiten-der-Krise/!5676794
   DIR [3] /Fahrrad-Boom-in-Corona-Pandemie/!5694408
   DIR [4] /Untersuchungen-in-der-Fleischindustrie/!5698660
   DIR [5] /Die-Eisbaeren-sterben-aus/!5695709
   DIR [6] /Trumps-Kehrtwende-bei-Masken-Frage/!5695492
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Johanna Roth
       
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