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       # taz.de -- Nach Rücktritt der Regierung: Libanons vollkommene Krise
       
       > Ein neues Kabinett bringt im Libanon keine Lösung, der desolate Zustand
       > des Landes wurzelt tiefer. Viele Menschen wollen einen echten Wandel.
       
   IMG Bild: Proteste am Montag auf den Straßen Beiruts
       
       [1][Libanons Regierung ist zurückgetreten], doch das ändert vorerst nichts.
       Nicht nur bleibt das Kabinett unter Hassan Diab solange geschäftsführend im
       Amt, bis eine neue Regierung gebildet ist, was Monate dauern kann. Auch
       führt der erneute Rücktritt einer Regierung im Libanon den Menschen
       unmissverständlich vor Augen: Ein neuer Premier mit neuem Kabinett wird
       nichts dessen richten, was im Land grundsätzlich schiefläuft.
       
       Damit vervollständigt Diabs Schritt das Desaster, das mit der
       Wirtschaftskrise und der [2][Katastrophe in Beirut] einen Höhepunkt
       erreicht hat. Die Explosion war ein gewaltiger Schlag ins Gesicht jener,
       die einfach ihr Leben leben wollen, im Libanon eine Zukunft planen, eine
       Familie gründen, eine Karriere verfolgen wollen – und zwar in einem Staat,
       der seine wichtigste Aufgabe erfüllt: Leib und Leben der BürgerInnen
       schützen. Die Explosion hat das Staatsversagen von seiner hässlichsten
       Seite offenbart: Es trat auf als Glassplitter im Unterschenkel, es
       verwandelte Wohnungen in Trümmer, es tötete Freunde und Familie.
       
       Nun zwingt sich die Frage geradezu auf: Was kann eine neue Regierung
       ändern? Wie am Montag bekannt wurde, wusste die Regierung Diabs zwar von
       dem gefährlichen Ammoniumnitrat im Hafen. Damit trifft sie eine Mitschuld,
       mitnichten aber ist sie allein verantwortlich für die Katastrophe. Diab
       trat im vergangenen Januar an, nachdem Massenproteste die Regierung seines
       Vorgängers Saad Hariri zu Fall gebracht hatten. Diabs Regierung sollte
       unabhängig sein, nicht korrupt, ein Technokraten-Kabinett. Nun ist wieder
       die Rede von einer „neutralen Regierung“, einer „Regierung der nationalen
       Einheit“, doch mit jedem neuen Kabinett klingen diese Worte hohler.
       
       In seiner Fernsehansprache am Montagabend sprach Diab von einem Volk, auf
       dessen Seite er auch sich und seine Regierung verstanden wissen wollte. Dem
       gegenüber stellte er eine einflussreiche „Klasse“; er sprach von „ihnen“,
       von „einigen“ und von einem „Korruptionsnetzwerk“, das größer sei als der
       Staat. Seine Worte waren auffallend nebulös, doch seine Analyse ist
       zutreffend, auch wenn Diab von Gnaden eben dieser Klasse regierte und damit
       selbst Teil des Systems war.
       
       ## Mafiöse Strukturen
       
       Im Libanon wissen alle: Diese „Klasse“ besteht aus mafiös agierenden
       Politiker(familien) und ihren Günstlingen, aus Ex-Außenminister Gebran
       Bassil, der den Elektrizitätssektor des Landes kontrolliert, aus seinem
       Schwiegervater, dem Präsidenten und Ex-Warlord Michel Aoun, dem Bassil im
       Amt nachfolgen will. Aus der Hariri-Familie von Ex-Premier und Unternehmer
       Saad Hariri, Sohn Rafik Hariris, der seinerseits Regierungschef war und
       gleichzeitig nach dem Bürgerkrieg gewinnbringend Beirut wieder aufbauen
       durfte. Aus Hassan Nasrallah, der sich selbst zwar von staatlichen Posten
       fernhält, aber mit der Hisbollah eine einflussreiche Partei sowie eine
       eigene Armee unterhält, mit der er das Land in Geiselhaft hält.
       
       Wie in so vielen Ländern der Region wollen viele im Libanon einen „wahren
       Wandel“, von dem auch Diab am Montag sprach. Im Libanon heißt das: Nicht
       einen Militärherrscher stürzen, sondern an eben diese tief verwurzelten
       Strukturen zu gehen, die das Land lähmen. Die Wirtschafts-, Regierungs- und
       Coronakrise im Land mitsamt einer wütenden Protestbewegung auf den Straßen
       kann den Libanon destabilisieren. Sie birgt aber auch die Chance,
       grundsätzlich etwas zu verändern. Dass dies möglich ist, haben die
       [3][Umwälzungen in den Ländern der Region] im vergangenen Jahrzehnt zur
       Genüge bewiesen.
       
       11 Aug 2020
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jannis Hagmann
       
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