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       # taz.de -- London im Corona-Sommer: Heiß und leer
       
       > Nichts ist, wie es war, in der britischen Hauptstadt London. Manches wird
       > vielleicht nie wieder so – und manches besser. Ein Spaziergang.
       
   IMG Bild: Normalerweise voller Tauben und Touristen: Trafalgar Square
       
       London taz | Seine Familie mit dem Rücken zum Nelson’s Column am Trafalgar
       Square, macht Sajid Azim schnell ein Foto fürs Urlaubsalbum auf seinem
       Smartphone. Der Vierzigjährige ist diesen Sommer wegen der Coronapandemie
       nicht wie sonst mit seiner Familie nach Marokko geflogen. Stattdessen
       kutschierte er seine Frau und drei Kinder mit dem Auto von Manchester nach
       London.
       
       „Darf ich vielleicht gar nicht sagen, dass ich aus Manchester bin“, scherzt
       er, denn in Manchester gelten derzeit, anders als in London, verschärfte
       Distanzierungsregeln aufgrund eines lokalen Anstiegs der Infektionen.
       Mancunier*innen dürfen sich nicht gegenseitig besuchen. Reisen, etwa nach
       London, sind jedoch erlaubt, solange soziale Distanz eingehalten wird.
       
       „London gefällt uns eigentlich besser und ist angenehmer, weil die Stadt
       nicht so voll ist wie sonst!“, behauptet Sajid. Außer ein paar wenigen
       Tourist*innen steht hier nur eine Reihe Obdachloser ordentlich in der
       Schlange vor einem Stand einer Wohlfahrtsorganisation. Auch das gibt es
       genau hier erst seit der Pandemie. Jetzt müssen sie nicht den Horden von
       Tourist*Innen weichen, die sich normalerweise hier tummeln.
       
       Immerhin können die Besucher*innen der britischen Hauptstadt seit August
       wieder ins Wachsfigurenkabinett, in die Nationalgalerie und ins
       Naturkundemuseum gehen. Der Zoo und der weltberühmte Botanische Garten
       haben schon seit letztem Monat offen, ja sogar das Riesenrad London Eye
       dreht sich wieder, und wer will, kann ins Kino gehen, wo jedoch Abstands-
       und Hygieneregeln gelten. Theatervorstellungen gibt es noch nicht. Die
       Royal Opera veranstaltet Drive-in-Kino-Vorstellungen unter anderem auch in
       London. Eine Maskenpflicht besteht übrigens in allen öffentlichen Räumen in
       Großbritannien, Asthmatiker*innen und Kleinkinder ausgenommen.
       
       Am Trafalgar Square drängt Azims Frau ihn nun herüber zur Nationalgalerie.
       „Schau mal, die haben auf, da stehen Leute an“, bemerkt sie und hat es
       plötzlich eilig. Aber sie wird enttäuscht: Wer reinwill, muss, wie bei
       allen Londoner Attraktionen, vorher buchen. Nur so lässt sich die
       Besucherzahl im Coronazeitalter regeln.
       
       Dennoch versucht die britische Regierung die Bevölkerung zum Ausgehen zu
       ermuntern. Montags bis mittwochs gibt es zehn Pfund (11 Euro) Rabatt auf
       jede im Restaurant verzehrte Speise pro Person. Das hilft, erzählt Archie
       Katrics, 34, Manager des japanischen Grillrestaurants Robata in Soho. „Der
       Umsatz ist nun an jedem Tag gut, weil Kundschaft auch an den normalerweise
       schwachen Tagen ins Restaurant kommt“, sagt er. „Wir mussten sogar neue
       Leute einstellen.“
       
       Allerdings sei das nicht nur wegen der Gutscheine, sondern auch weil der
       Bezirk Westminster auf die Idee kam, eine Straßensperrung zu erlauben,
       damit die Restaurants ihre Tische auf die Straße stellen können. „Wir
       konnten so den Platz, den wir aufgrund der Distanzierungsmaßnahmen drinnen
       verloren haben, mit Tischen draußen kompensieren“, erklärt Katrics. An
       heißen Sommerabenden gleicht Soho nun einer mediterranen Innenstadt – eine
       Veränderung zum Positiven, dank Coronavirus.
       
       Das ist nicht die einzige positive Entwicklung in London. So hat der
       Londoner Bürgermeister Sadiq Khan gemeinsam mit vielen der 32 Londoner
       Bezirksverwaltungen wegen der Pandemie schnell viele Fußwege verbreitern
       lassen und Fahrradwege geschaffen, wo es noch nie vorher welche gab, etwa
       auf dem stadtautobahnähnlichen Innenstadtring zwischen den Bahnhöfen Euston
       und King’s Cross. Die Veränderungen sollen bleiben. Grund war die
       Erkenntnis zum Höhepunkt des Lockdowns, dass weniger Autoverkehr und mehr
       Platz für Radfahrer*innen und Fußgänger*innen die Stadt lebenswerter macht.
       
       An den übriggebliebenen Rest der Autofahrer*innen schmeißen sich
       inzwischen, auch das ist neu, an jeder großen Straßenkreuzung um Geld
       bettelnde Menschen. Die sind nicht die einzigen Sorgen des Bürgermeisters.
       Der öffentliche Nahverkehr, für den Sadiq Khan die Verantwortung trägt,
       steht nun tief in den roten Zahlen, da der Pendler*Innenverkehr zu großen
       Teilen ausfällt. Zwar rettete das Verkehrsministerium die öffentlichen
       Verkehrsbetriebe mit umgerechnet 1,7 Milliarden Euro, verlangte aber dafür
       eine gründliche und tiefgehende Überprüfung. Fahrerlose Züge und
       Privatisierungen könnten sich hier anbahnen.
       
       Aber die Fahrgäste bleiben bis auf Weiteres aus, und das liegt nicht nur am
       fehlenden Berufsverkehr. Im Touristenviertel Covent Garden blickt Muhamad
       Andru, 25, in die gähnende Leere seines Souvenirladens „Red Bus“. Niemand
       will derzeit seine Teddybären mit Unionjacks und die Abbilder der
       königlichen Familie kaufen. Normal sei ein Tagesumsatz von über 2.000 Pfund
       (2.200 Euro), erzählt er – momentan seien es nicht mal 30. „Mein Chef und
       ich vereinbarten, dass er mir derzeit nur einen Teil meines Gehalts zahlt
       und den Rest, wenn alles wieder besser wird“, berichtet er.
       
       Das Bedford-Hotel gegenüber dem Laden hat keine Gäste. Der Rezeptionist des
       riesigen Royal National Hotels in der Nähe von Russell Square gesteht, dass
       das Hotel, dessen Kapazität bei 3.000 Gästen liegt, momentan nur 50 Gäste
       beherbergt – alle aus Großbritannien. Aussichten auf Besuche*innen, die
       normalerweise mit dem Eurostar kommen, sind seit dem Wochenende noch
       geringer geworden, weil sich alle aus Belgien Anreisenden wegen eines
       Anstiegs der Seuche dort bei der Ankunft in eine 14-tägige Quarantäne
       begeben müssen.
       
       Der Pub Marquis Cornwallis in der Marchmont Street, einer Einkaufsstraße in
       Bloomsbury, hat seit Anfang Juli wieder geöffnet. Gäste müssen aber ihre
       Adresse und Namen hinterlassen, damit sie bei Infizierungsgefahr
       kontaktiert werden können, berichtet Managerin Dasa Barvikova, 28. „Es ist
       auf alle Fälle weniger los, vor allem fehlen Besucher und Leute aus den
       Büros, und es macht einfach nicht mehr so Spaß wie sonst“, findet sie.
       
       Eigentlich wurde erwartet, dass mit dem Ende des Lockdowns die britische
       Wirtschaft wieder Fahrt aufnimmt und Arbeitskräfte wieder an ihren
       Arbeitsplatz zurückkehren. Die letzten Zahlungen des staatlichen
       Kurzarbeiterprogramms „Coronavirus Jobs Retention Scheme“ –
       Arbeitnehmer*innen bekommen bis zu 80 Prozent ihres Gehalts in Höhe von
       maximal umgerechnet 2.800 Euro pro Monat ausgezahlt – enden erst am 31.
       Oktober. Bis dahin wird die Initiative schrittweise zurückgeschraubt. Doch
       die derzeitige Leere der Londoner Innenstadt beweist, dass zu einer
       großflächigen Rückkehr in die Bürotürme noch kein großer Enthusiasmus
       besteht.
       
       Gerade im Finanz- und im IT-Bereich wird vieles über Zoom und vom
       Homeoffice aus geregelt. Viele Angestellte kommen gar nicht mehr in die
       Stadt. Resigniert entschlossen sich bereits zahlreiche Geschäfte zur
       Aufgabe. Auch viele Ketten schließen Filialen, in die sonst die
       Berufspendler gehen.
       
       Inzwischen überlegen Immobilieninvestor*innen und Lokalbehörden, ob diese
       frei gewordenen Räume in Wohnungen umgebaut werden sollten. Neue
       erleichterte Bauvorschriften der britischen Regierung sollen hier bald
       helfen.
       
       Der Wegfall des Berufsverkehrs erklärt auch, warum der Harrison Pub beim
       Bahnhof Kings Cross immer noch geschlossen hat. Alias Harwood, 52, ein
       Dekorateur, nutzt die Zeit, um den Holzboden zu sanieren. Er zählt die
       Gründe auf, weshalb der Pub noch nicht öffnet: „Die umliegenden Büros haben
       alle noch zu. Das ist ein großer Teil der Kundschaft. Dann trifft sich auch
       die Folkloregruppe nicht, die den Keller mietet, und die Zimmer für
       Übernachtungen oben sind ebenfalls leer.“
       
       Wer in London derzeit nach offenen Clubs und Musikkonzerten sucht, sucht
       vergeblich. Wer dennoch feiern will, geht in offene Parkanlagen wie
       Hampstead Heath. Zu lauter Musik versammeln sich viele, meist weit über die
       erlaubte Menge von sechs Personen hinaus ohne soziale Distanz. Wiesen
       werden zu improvisierten Tanzflächen. Auch von Raves in so manchen
       Wohngegenden wurde berichtet.
       
       Andere Londoner*innen flüchten sich wegen des heißen Wetters an die
       Strände, von wo sie oft wegen Überfüllung wieder nach Hause geschickt
       werden. Dabei können sie sich bereits in den vollgepackten Zügen mit dem
       Coronavirus infizieren. Da insbesondere Menschen unter 30 die
       Abstandsregeln ignorieren, ist es kein Wunder, dass auch in Großbritannien
       die meisten neu Infizierten derzeit unter 30 Jahre alt sind.
       
       12 Aug 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Zylbersztajn
       
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