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       # taz.de -- Neuer „Kiosk“ des Gorki-Theaters: Was Theater sein kann
       
       > Das Gorki-Theater eröffnet vor Spielzeitbeginn einen „Kiosk“, um neue
       > Formen zu erproben. Zum Auftakt gibt es Produktionen von Rimini
       > Protokoll.
       
   IMG Bild: Hinter der unscheinbaren Fassade des „Kiosk“ erforscht das Gorki-Theater neue Formen
       
       Eine etwa zwanzigköpfige Gruppe steht mit Kopfhörern und Atemschutzmasken
       im Berliner Hauptbahnhof und schaut unisono in eine Richtung, als gäbe es
       dort etwas zu sehen. Theater zum Beispiel. Und tatsächlich redet ihnen eine
       Stimme via Kopfhörer ein, hier einem Theaterereignis beizuwohnen: dass die
       umherlaufenden Menschen Reisende spielen und mehr.
       
       Die Spielanordnung, die diesen Einflüsterungen zugrunde liegt, soll
       bewirken, dass Menschen im öffentlichen Raum unter verschiedenen Prämissen
       füreinander zu Darstellerinnen und Darstellern werden.
       
       Die Teilnehmer*innen am Stadtspaziergang „Remote Mitte“ von [1][Rimini
       Protokoll] werden es für die geschäftig durch die Etagen des enormen
       Bahnhofs laufenden Ankommenden und Abfahrenden: Ihr seltsames, dem Ort
       nicht funktional angemessenes Verhalten macht sie automatisch zu
       Fremdkörpern und zum Gegenstand der Betrachtung. Die „normalen“
       Nutzer*innen dieses Bahnhofs wiederum werden durch die simple Behauptung
       der Stimme im Ohr der Remote-Teilnehmer*innen zu Mitspieler*innen gemacht.
       
       Was Theater sein kann, ist ja schon länger nicht mehr leicht zu sagen.
       Überall wird performt, im Leben, auf [2][Social Media], in der Politik. Da
       kommt die gute alte darstellende Kunst kaum noch hinterher. Die Pandemie
       hat die Lage weiter verschärft. Sich zu versammeln, um [3][gemeinsam Kunst
       zu erleben, gilt aktuell als ungesund.] Ausgebaute Sitzreihen und
       Abstandsregeln, Masken nicht nur für Spieler*innen, sondern auch für das
       Publikum, sind die Folge, die fortan auf unbestimmte Zeit das Thema Theater
       belasten.
       
       ## Rückseite des Theaters
       
       Was also tun? Das Gorki-Theater hat als erste Amtshandlung in der neuen
       Spielzeit ein Ladenlokal eröffnet. „Kiosk“ heißt die Unternehmung in der
       Dorotheenstraße 4, also auf der Rückseite des Theaters gelegen.
       
       Das Gorki möchte seine Suchbewegung in Richtung der Schnittpunkte von
       bildender und darstellender Kunst erweitern. Mit dem jährlichen Herbstsalon
       und der Young Curators Academy ist das Haus als Player auf diesem Sektor ja
       schon gut eingeführt. Die Aktivitäten sollen nun verstetigt werden, statt
       wie bisher nur Sonderevents zu sein.
       
       Statt die Pandemie als Tragödie für das Medium Theater zu betrachten, gelte
       es, sie als Chance zu begreifen, sagt On Ken Seng, der den Kiosk gemeinsam
       mit Shermin Langhoff kuratieren und entwickeln wird, wo sie genau das
       vorhaben, um neue Formen und Formate zu entwickeln. Seng, der auch
       Gründungsdirektor des Singapore International Festival of Arts ist, gehörte
       2019 bereits zu dem Machern der Young Curators Akademy am Gorki.
       
       Die Gegend für den „Kiosk“ ist gut, die Museumsinsel, das Haus Bastian sind
       in der Nähe. Es kann also sogar auf Laufkundschaft gesetzt werden. Vorerst
       ist in den hellen Räumen noch nicht viel zu sehen. Die Theaterkasse
       befindet sich hier. Auf zwei Bildschirmen laufen Videodokumentationen von
       zwei Produktionen von Rimini Protokoll. Das Performance-Kollektiv residiert
       seit dieser Spielzeit im Gorki.
       
       ## Tondokumente aus dem Stasi-Archiv via Smartphone
       
       Jetzt eröffnen zwei historische Produktionen das Kiosk-Programm: „Remote
       Mitte“ von 2016 – ein Stadtspaziergang, bei dem man von einer
       computergenerierten Stimme angeleitet, also ferngesteuert, wird, Dinge zu
       tun, zu sehen und zu fühlen – unter anderem am Berliner Hauptbahnhof.
       
       Das zweite Projekt, das Stasi-Hörspiel „50 Aktenkilometer“ ist schon von
       2011. Auch hier wird man von einer Stimme durch Berlin geführt. An
       bestimmten Orten lassen sich via Smartphone Tondokumente aus dem
       Stasi-Archiv aktivieren – meist just an dem Ort, an denen die
       dokumentierten Ereignisse vor Jahrzehnten ihren Anfang nahmen.
       
       Unter den Linden etwa, wo ein simpler roter Luftballon die Aufmerksamkeit
       der berüchtigten Behörde weckt, oder in der Nähe des Berliner Ensembles, wo
       es in einem Wohnhaus eine Kleiderkammer gab, in dem Spitzel sich mit
       Verkleidungsrequisiten ausstatten konnten wie die Bettler bei Herrn Peachum
       in Brechts „Dreigroschenoper“.
       
       Das ist charmant, aber alles auch ein wenig pittoresk und nicht mehr ganz
       auf der Höhe zeitgemäßer Diskurse. Gerne würde man tiefer in die Materie
       tauchen.
       
       Auch in „Remote Berlin“ verdirbt der „Sendung mit der Maus“-Habitus, mit
       der die allwissende Computerstimme Julia altklug ihre Allgemeinplätze zu
       Demokratie und Zukunft, zum Berliner Schloss und anderem verkündet,
       manchmal den Spaß. So oberflächliche und schlecht begründete Ansichten zu
       Medizin und Big Data wirken in unseren Zeiten anschwellender Anfälligkeit
       für Verschwörungstheorien außerdem etwas schal.
       
       Trotzdem sind das noch einmal aufschlussreiche Reisen in die Vergangenheit
       eines Formats, dessen Zukunft hier jetzt an der Praxis entlang untersucht
       und erforscht werden soll.
       
       12 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Esther Slevogt
       
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