URI: 
       # taz.de -- Animationsfilm „Sohn der weißen Stute“: Blick ins Kaleidoskop
       
       > Der selten gezeigte ungarische Zeichentrickfilm „Sohn der weißen Stute“
       > kommt restauriert ins Kino und ist ein virtuoser Rausch abstrakter
       > Bewegungen.
       
   IMG Bild: Viele Farben und Formen: „Sohn der weißen Stute“
       
       Die seit Monaten grassierende Coronapandemie, die auch viel zu viele Teile
       des kulturellen Lebens beeinträchtigt, lässt nach Strohhalmen greifen. So
       wie diesem: [1][Da die Kinos zwar wieder geöffnet sind, die Versorgung mit
       aktuellen Filmen allerdings noch zu wünschen übrig lässt], haben die Kinos
       Raum für etwas, was eigentlich seit Jahren ausgestorben ist:
       Wiederaufführungen.
       
       In Ermangelung neuer Filme, besonders der heiß ersehnten amerikanischen
       Blockbuster, kommen Klassiker des Kinderfilms erneut ins Kino, eine
       deutsche Großproduktion wie die „Comedian Harmonists“ ist noch einmal zu
       sehen, aber es gibt auch Filme, die bislang nur unter Spezialisten bekannt
       waren. So wie „Sohn der weißen Stute“, ein Animationsfilm aus Ungarn, der
       als Klassiker seines Genres gilt, aber lange Jahre kaum verfügbar war. Nun
       kommt Marcell Jankovics’ vor gut vierzig Jahren entstandenes Meisterwerk in
       makellos restaurierter Form endlich wieder ins Kino und erweist sich als
       viel mehr als der Märchenfilm, der es auf den ersten Blick ist.
       
       Als sich Marcell Jankovics Ende der 70er Jahre an die Arbeit zu seinem
       ersten Langfilm machte, war der ungarische Regisseur für seine Kurzfilme
       schon mit einer Oscar-Nominierung und einer Goldenen Palme ausgezeichnet
       worden. Jahrelang arbeiteten Jankovics und seine Mitarbeiter an „Sohn der
       weißen Stute“, der Ende 1981 in Ungarn in die Kinos kam und bald auch im
       Ausland Kultstatus erlangte. Inhaltlich ließ sich Jankovics von ungarischen
       Volksmärchen inspirieren, die er werkgetreu adaptierte, visuell aber mit
       etlichen zeitgenössischen Elementen anreicherte.
       
       Erzählt wird von Fanyüvő, auf Deutsch „Baumausreißer“, dem Sohn der weißen
       Stute. Diese konnte aus der Unterwelt fliehen und fand Obdach in einem
       riesigen Baum, der aus 77 Wurzeln und 77 Ästen bestand. Sie gebar drei
       Söhne: Neben Baumausreißer sind dies Steinbröckler und Betonkneter.
       Gemeinsam macht sich das Trio auf, drei Prinzessinnen zu retten und drei
       Drachen zu besiegen.
       
       Die Zahlenmystik, die geometrische Ordnung und zyklische Natur, die sich
       in dieser klassischen märchenhaften Handlung andeuten, setzen sich in den
       Bildern fort, die das eigentlich Spektakuläre von Jankovics’ Film sind. Vom
       ersten Moment an entfaltet sich ein überbordender Strom von Bildern, Formen
       und Farben, meist nicht durch harte Schnitte verbunden, sondern weich
       ineinanderfließend, was einen geradezu rauschhaften Effekt erzeugt.
       
       Atemberaubend experimentell 
       
       Man mag angesichts der Sogwirkung dieser Farbenspiele an Animationsfilme
       aus den späten 60er Jahren denken, deren Inspiration mehr oder weniger
       eindeutig Erlebnisse mit den damals weithin verfügbaren psychedelischen
       Drogen waren. Nicht nur die bildende Kunst ließ sich von den dank LSD
       erlebten Reisen in andere Welten beeinflussen, auch Comiczeichner und
       Filmregisseure bauten das Erlebte in ihre Kunst ein und ließen Filme wie
       etwa das Beatles-Abenteuer „Yellow Submarine“ zum gern verwendeten
       Hintergrundrauschen für psychedelische Erlebnisse werden. Ob das auch
       Jankovics’ Inspiration war, muss offen bleiben, man mag sich aber gerne
       vorstellen, wie „Sohn der weißen Stute“ Anfang der 80er Jahre hinter dem
       Eisernen Vorhang gewirkt haben mag.
       
       Wie bei so vielen dort entstandenen Filmen konnte auch Jankovics nicht
       unmittelbar an den gesellschaftlichen Zuständen Kritik üben, sondern musste
       verklausuliert vorgehen. Was anfangs noch einer zeitlosen Märchenerzählung
       gleicht, wird, spätestens wenn in der Unterwelt Drachen auftauchen, auch zu
       einer Reflexion über die Moderne, Krieg und Zerstörung. Nicht an
       klassische, echsenartige Wesen erinnern die hier gezeigten Drachen, sondern
       teils an Panzer, teils an vieltürmige Hochhäuser, die sich den Helden in
       den Weg stellen.
       
       Doch auch wenn man diese Momente leicht ideologisch interpretieren kann: In
       erster Linie erzählt „Sohn der weißen Stute“ vom universellen, zeitlosen
       Kampf des Guten gegen das Böse. Vor allem aber ist die Handlung nur der
       lose Aufhänger für einen Film, der auf atemberaubende experimentelle Weise
       die Möglichkeiten auslotet, eine Geschichte in erster Linie in Bildern zu
       erzählen, weniger auf den Intellekt zu zielen als auf Emotionen und Sinne.
       
       Weniger an typische Animationsfilme erinnert das als an die abstrakten
       Versuche mit Form und Bewegung, wie sie in den 30er Jahren [2][im
       Bauhaus-Umfeld entstanden], oder die Experimente mit Ton und Farben des
       kanadischen Experimentalfilmers Norman McLaren. Losgelöst von
       erzählerischen Konventionen oder gar von Kategorien wie Logik und
       Realismus, lässt Jankovics seiner visuellen Fantasie freien Lauf und reizt
       die Möglichkeiten des Animationsfilms bis an die Grenze aus.
       
       Als würde man in ein Kaleidoskop blicken, mutet „Sohn der weißen Stute“ oft
       an, ein Eindruck, der durch die fast quadratische Leinwand und die
       Betonung geometrischer Formen noch verstärkt wird. Film als virtuoser
       visueller Rausch: genau das richtige Gegenmittel in diesen trüben Tage der
       Pandemie.
       
       13 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Wiedereroeffnung-der-Kinos-in-Berlin/!5692687
   DIR [2] /Ausstellung-ueber-Fotograf-Umbo/!5664023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Meyns
       
       ## TAGS
       
   DIR Film
   DIR Zeichentrick
   DIR Kinderfilm
   DIR Ungarn
   DIR Animation
   DIR Film
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Deutscher Film
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Animationsfilm „Ruben Brandt“ im Kino: Der eindimensionale Vater
       
       Hier treffen sich Albtraum, Kunst und Kalter Krieg. Milorad Krstić’
       Animationsfilm „Ruben Brandt“ entführt in eine surreal-psychotische Welt.
       
   DIR Historiendrama aus Polen: Der sich den Mund zunäht
       
       Der polnische Regisseur Bartosz Konopka erzählt in „Sword of God“ eine
       Missionsgeschichte. Dabei findet er Bilder für Kritik an der Gegenwart.
       
   DIR Wiedereröffnung der Kinos in Berlin: Zum Neustart dunkle Flecken
       
       Wenn die Berliner Kinos nächste Woche wieder öffnen, bleiben viele Fragen.
       Und mit dem Colosseum ist bereits ein Kino auf der Strecke geblieben.
       
   DIR „Caligari“ im Berliner Filmmuseum: Berühmter deutscher Albtraum
       
       „Du musst Caligari werden!“: Das Filmmuseum in Berlin widmet sich dem
       legendären Stummfilm, der vor 100 Jahren Premiere hatte.