URI: 
       # taz.de -- Klimapolitik seit Willy Brandt: Mehr Mut wagen!
       
       > 50 Jahre Umwelt-Sofortprogramm der Regierung Brandt/ Genscher: Eine Lehre
       > für den Klimaschutz von heute.
       
   IMG Bild: Waldsterben: ein alter Begriff aus der Ökobewegung mit trauriger Aktualität
       
       Willy Brandt ist für vieles bekannt. Aber nicht dafür, dass er mit einem
       Paukenschlag den Umweltschutz in Deutschland einführte – in einer Zeit, als
       das Wort „Umwelt“ noch fast unbekannt war. Bekannt war Brandts Formel vom
       SPD-Wahlkongress in Duisburg 1961: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss
       wieder blau werden.“ Zu seinen zentralen Themen gehörte dies aber eher
       nicht.
       
       Dennoch hat die Regierung Brandt 1970 ein ehrgeiziges
       „Umwelt-Sofortprogramm“ beschlossen. „Die Bundesregierung“, so heißt es
       dort, „gibt der Abwehr der Umweltgefahren Vorrang in ihrem Programm innerer
       Reformen (…). Es ist ein erster Schritt (…), wenn in dem vorliegenden
       Sofortprogramm zu ausgewählten besonders dringenden Problemen des
       Umweltschutzes Lösungen in Angriff genommen werden, die der Luft- und
       Wasserverunreinigung, dem Lärm und den Bioziden entgegenwirken,
       Naturschutz, Landschaftspflege und Umweltforschung fördern sollen.“
       
       Es lohnt sich, an das Sofortprogramm von vor 50 Jahren zu erinnern. Es
       markiert den ehrgeizigen Start der „Umweltpolitik“ in Deutschland. Mit ihm
       eröffnete die sozial-liberale Koalition die zügige Einführung grundlegender
       Gesetze und Einrichtungen des neuen Politikfelds.
       
       Bereits im Herbst 1970 wurde eine Verfassungsänderung eingeleitet, die dem
       Bund die Zuständigkeit für ein umfassendes Gesetzgebungsprogramm für alle
       wichtigen Umweltbereiche einräumen sollte. Eingerichtet wurde auch ein
       Kabinettsausschuss für Umweltfragen. Umweltbelange sollten in allen
       Ressorts Berücksichtigung finden. Ein „Sachverständigenrat für
       Umweltfragen“ sollte diese Politik kritisch begleiten. Zu den ersten
       Sofortmaßnahmen gehörten auch Gesetze gegen akute Missstände: den hohen
       Bleigehalt im Benzin, die hohe Abfallbelastung und den Fluglärm.
       
       Das ausführlichere „Umweltprogramm“ von 1971 ([1][pdf]) enthielt eine
       detaillierte Liste mit insgesamt 148 Einzelmaßnahmen, meist mit
       Fristsetzungen von nur wenigen Jahren. Diese Planung betraf viele Gesetze,
       etwa das Abwasserabgabengesetz oder das zentrale
       Bundesimmissionsschutzgesetz, aber auch institutionelle Neuerungen wie etwa
       die Planung des Umweltbundesamts.
       
       Dass der Mut des Anfangs in der Folge nachließ und manche Regelung nur
       abgeschwächt realisiert wurde (nicht zuletzt der Kampf gegen „Biozide“),
       entspricht der politischen Alltagserfahrung im Allgemeinen und den
       Problemen seit der Ölkrise 1973/74 im Besonderen. Der Wechsel im Kanzleramt
       von Willy Brandt auf Helmut Schmidt 1974 war für den Umweltschutz ein
       weiterer Dämpfer.
       
       Für die Geschichte der deutschen Umweltpolitik ist es aber durchaus
       erhellend, dass die wichtigsten Erkenntnisse zur Umweltpolitik bereits so
       früh vorhanden waren. Überdies wurden sie von der Politik initiiert, noch
       bevor das öffentliche Bewusstsein, die Wissenschaft oder die mobilisierten
       Bürger die politische Bühne betraten. Es fehlte damals auch nicht an
       schonungslosen Diagnosen.
       
       Innenminister Genscher beschwor 1970 „ein apokalyptisches Bild von der
       Zukunft, wenn es uns nicht gelingt, den Umweltschutz als die politische
       Herausforderung unseres Jahrzehnts zu begreifen und zu betreiben“. Und der
       Staatssekretär Hartkopf (FDP) kommentierte das Sofortprogramm mit den
       Worten: „Es wäre tödlich für die Menschheit, wenn die Entscheidung für den
       Umweltschutz zu spät käme.“
       
       Die Dringlichkeit der Umweltprobleme sollte hier also in rasch wirksame
       Maßnahmen übersetzt werden. Dies ist ein weiterer Grund, sich zu erinnern.
       Denn auch in der [2][heutigen Klimapolitik] wird die Dringlichkeit betont –
       der Handlungshorizont ist aber weit und langfristig. Und die Wirksamkeit
       der Politik verliert sich offenbar in dieser Langfristigkeit: Seit 30
       Jahren hat sich die Klimapolitik immer weiter entwickelt, den immer
       weiteren Anstieg der Treibhausgase aber nicht verhindert.
       
       Natürlich braucht Klimaschutz langfristige Ziele. Was er aber ebenso
       braucht, sind kurzfristig sichtbare Maßnahmen, die die Glaubwürdigkeit und
       Machbarkeit des Programms fördern. Es geht auch um Erfolgserlebnisse.
       Kurzfristig möglich wären etwa: eine beschleunigte Stilllegung
       abgeschriebener, kaum noch rentabler Kohlekraftwerke mit großzügiger
       staatlicher Förderung von Ersatzinvestitionen in [3][erneuerbare Energien].
       Schnell wirken würde auch eine Beendigung der Subventionen für fossile
       Energien. Die Mittel wären besser genutzt für Solaranlagen auf
       Einkaufszentren, Gewerbeanlagen oder Parkplätzen. Ein Tempolimit auf
       Autobahnen wäre ein symbolisch wichtiger Schritt auf dem Weg zu sichtbaren
       Verbesserungen bei den CO2-Emissionen.
       
       Die Liste solcher Maßnahmen, welche der Dringlichkeit des Klimaschutzes
       Rechnung tragen, ließe sich verlängern. Die ungeheure Anstrengung des
       Klimaschutzes wird nicht mit depressiven Weltbildern erreicht. Nötig ist
       entschlossenes, ergebnisorientiertes Handeln, das gern auch Spaß machen und
       gesünder sein darf – wie der sofort reduzierbare [4][Fleischkonsum] oder
       der Umstieg aufs Fahrrad.
       
       Die Klimapolitik hat weltweit viel erreicht – nur keine Sofortwirkungen.
       Seit der UN-Klima-Rahmenkonvention von 1992 hat sie sich immer weiter
       entwickelt, immer breitere Resonanz gefunden, immer genauere Ziele
       formuliert. Aber die Klimagase sind weiter angestiegen. Paradoxerweise
       werden sie in diesem Jahr erstmals zurückgehen – wegen der Coronakrise.
       
       Und das ist auch hier die entscheidende Lehre: Weitgehende Maßnahmen mit
       kurzem Zeithorizont sind möglich, heute mehr denn je. Noch nie haben
       anfangs überforderte Staaten so schnell ihre Handlungsfähigkeit gesteigert
       wie in dieser anderen Krise. Diese Chance versuchen Klimapolitiker
       vielerorts zu nutzen. Es sollte aber auch sofort sichtbare Ergebnisse
       geben. Und so viel Mut wie vor 50 Jahren.
       
       17 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/06/027/0602710.pdf
   DIR [2] /Klimaaktivistin-trifft-Merkel/!5707345
   DIR [3] /Energiewende-in-Deutschland/!5705037
   DIR [4] /Covid-19-in-der-Fleischindustrie/!5681708
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Jänicke
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Umweltpolitik
   DIR Willy Brandt
   DIR fossile Energien
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Schwerpunkt AfD
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Schwerpunkt Fridays For Future
   DIR Klima
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Polemik in Benzinpreis-Debatte: Billiges Empörungsspektakel
       
       Das Baerbock-Bashing in der Benzinpreis-Debatte ist unfair. Die gerade
       verschärften Klimaziele der Bundesregierung gehen in die gleiche Richtung.
       
   DIR Willy Brandts Kniefall vor 50 Jahren: Der zensierte Antifaschist
       
       Die Geste des Kanzlers vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos ist berühmt.
       Doch Polens Bürger erfuhren damals nichts von dem Akt der Versöhnung.
       
   DIR Initiative kritisiert falsche Fakten: AfD will Wald in Hessen schützen
       
       Abgeordnete der AfD protestieren gegen Windkraftanlagen im Reinhardswald.
       Bürgerinitiativen fühlen sich vereinnahmt.
       
   DIR Schadensrekorde bei Bäumen: Klimaziel lebt, Wald stirbt
       
       Deutschland stieß 2019 deutlich weniger CO2 aus und nähert sich so dem
       Klimaziel. Aber Dürre und Käfer killen mehr Bäume als zuvor.
       
   DIR Klimaschutzziele in Deutschland: Regierung besetzt Klimarat
       
       Fünf Expert*innen überwachen künftig die Einhaltung der deutschen
       Klimaziele. Darunter sind Befürworter und Kritiker der Energiewende.
       
   DIR Ausstiegsplan nimmt letzte Hürde: Wut über das Kohlevotum
       
       Der Bundestag hat den Kohleausstieg bis spätestens 2038 und hohe
       Entschädigungen für die Betreiber beschlossen. Die Klimabewegung reagiert
       empört.
       
   DIR Bürgergremium in Frankreich: Freiheit, Gleichheit, Klimaschutz
       
       Frankreich lässt 150 Bürger*innen Reformen erarbeiten. Heraus kommt ein
       radikales Ökoprogramm inklusive Biogutscheine und Fahrverbote.