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       # taz.de -- Politischer Diskurs ums Benehmen: Anstandtifa ist Handstandarbeit
       
       > Sachliche oder höfliche Kritik lässt sich leicht ignorieren. Aber
       > emotionale Betroffenheitsbeiträge mag man auch nicht leiden: zu
       > weinerlich.
       
   IMG Bild: Wer sich nicht benimmt, muss auf die stille Treppe
       
       Throwback zu meinem letzten Podium vor Corona: Kaum hatte ich die Bühne
       verlassen, tätschelte eine Frau Ü30 meine Schulter. In Zukunft, riet sie
       mir, solle ich vor Auftritten ganz oft „ähm“ sagen, um es mir danach beim
       öffentlichen Reden verkneifen zu können. Sei professioneller. Ich bedankte
       mich für das unaufgeforderte logopädische Coaching und wies darauf hin,
       dass ich nie einen Anspruch auf Tagesschau-reife Sprechperformance hatte.
       Später kam noch eine ältere Dame auf mich zu und kritisierte im breiten,
       badischen Dialekt mein „unverständliches Deutsch“.
       
       Die Veranstaltung war kein Filmabend, fleißig projiziert wurde trotzdem: Da
       saß dieser vorbildlich integrierte junge Mann mit Sakko und Empathie für
       besorgte Bürger:innen und Formulierungen wie „mit Verlaub“. Daneben ich,
       mit langen Nägeln, Tattoos, Kader-Loth-Shirt, Jogginghose (mit Bundfalte),
       zeitgenössischer Sprache. Da fühlten sich einige verpflichtet, mich mit
       Feedback wie nach einem Referat in der 3. Klasse zurechtzuweisen. Um die
       Assimilationsperformance meines Kollegen geht es nicht, ich hätte
       schließlich auch in Merkel-Drag kommen können. Der Subtext des Abends war
       jedoch nicht Mode, sondern Anstand.
       
       Genau wie beim Style wird er einigen Menschen zu- und anderen abgesprochen.
       Unanständig ist etwa die Wissenschaftlerin und Rapperin [1][Dr. Reyhan
       Şahin], die nicht nur selbstbestimmt über ihre Sexualität spricht, schreibt
       und rappt, sondern auch noch wie eine Schlampe rumläuft. Als Rapperin okay,
       aber in der Akademie?!
       
       Oder die Kabarettistin [2][Idil Baydar] neulich [3][bei Maybrit Illner, die
       komischerweise beim Thema Polizeigewalt aufgewühlt war]. Nur, weil die
       Spuren der zahlreichen Morddrohungen gegen sie auch zur hessischen Polizei
       führen, muss sie doch nicht gleich so emotional reagieren. Die anderen
       Gäste – sachliche und ruhige Männer in Sakkos – waren von ihrer Wut ganz
       verängstigt. Und dann ist da Bodo Ramelow, Thüringens Ministerpräsident,
       der einem AfD-Abgeordneten den Mittelfinger zeigte, nachdem dieser die
       NSU-Mordserie verharmloste. Unverschämt!
       
       ## Was darf Anstand?
       
       Regeln des Anstands statt Herrschaftskritik haben in nazi-positiven Milieus
       (so nennt Autorin Amina Aziz die bürgerliche Mitte, die gern mit Nazis
       redet, feiert und Waldspaziergänge macht) Tradition, doch das Phänomen wird
       dadurch nicht erträglicher. Diese Respectability Politics gehen über die
       Maßregelung von Ton und Ausdruck hinaus. Sachliche oder höfliche Kritik
       lässt sich leicht ignorieren. Emotionale Betroffenheitsbeiträge mag man
       auch nicht so leiden: zu weinerlich. Und wer frech wird, kommt erst mal auf
       die stille Treppe. Eine dringliche Frage lenkt vom Inhalt ab: Wie reden wir
       eigentlich miteinander?!
       
       Was darf Anstand? Antisemitismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit oder
       Sexismus anscheinend schon. Integrität, Gerechtigkeit oder das
       Zurückstecken des eigenen Egos hingegen sind optional. Klar. Ist
       schließlich kein moralischer Kompass, sondern [4][Silencing].
       
       17 Aug 2020
       
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   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=vkR42JTQRg8
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