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       # taz.de -- Streik gegen Lukaschenko in Belarus: Staatsbetriebe stehen still
       
       > In Belarus rufen die Gegner von Präsident Lukaschenko zum Generalstreik
       > auf – und in den Industriebetrieben geht fast nichts mehr.
       
   IMG Bild: Lukaschenko besucht den staatlichen Fahrzeugbauer MZKT, dort wird trotzdem gegen ihn demonstriert
       
       Kiew taz | Wortlos steht Alexander Lukaschenko vor den Arbeitern des
       Minsker Fahrzeugherstellers MZKT. Bevor er mit seiner Rede beginnen kann,
       muss er erst einmal zuhören. „Geh!“, schreien die Arbeiter ihm zu. Etwas
       gekränkt kommt der Staatschef auch gleich zur Sache. Er kenne die Forderung
       der Arbeiter nach Neuwahlen und seinem Rücktritt. „Solange ihr mich noch
       nicht umgebracht habt, gibt es keine Neuwahlen“, so Lukaschenko zu den
       Arbeitern, die diesen immer wieder mit Missfallensbekundungen und Rufen
       „geh“ unterbrechen.
       
       Seit Bekanntgabe der [1][Wahlergebnisse] am Sonntag, den 9. August, finden
       täglich im ganzen Land [2][Demonstrationen] gegen den autoritären
       Staatschef statt. Die Protestierenden fordern Neuwahlen, eine Freilassung
       aller politischen Gefangenen, Bestrafung der Polizisten, die Gefangene
       geschlagen und gefoltert haben und den Rücktritt von Präsident Lukaschenko.
       
       Tragende Säule der Proteste sind Zigtausende Arbeiter und Angestellte, die
       für diese Woche einen [3][landesweiten Generalstreik] ausgerufen haben. So
       streiken Arbeiter im Minsker MZKT genauso wie Bedienstete des weltbekannten
       Minsker Traktorenwerkes. Belaruskali, einer der größten Kaliproduzenten der
       Welt, hat seine Förderung am Montag eingestellt. Gestreikt wird auch beim
       Petrochemie-Marktführer Naftan.
       
       Auch im metallurgischen Werk BMZ stehen seit Montag alle Öfen still.
       Mehrere Kolonnen von streikenden Arbeitern machten sich am Nachmittag auf
       den Weg zu einem „Meeting für die Freiheit“ vor dem Gebäude des staatlichen
       Fernsehens. Auch beim staatlichen Fernsehen und den Kanälen ONT und STW
       wird gestreikt. Dutzende bekannte Journalisten und Moderator*innen haben
       aus Solidarität mit den Protestierenden ihren Dienst gekündigt. „Meiner
       Freundin, einer Zitherspielerin, haben sie auf die Hände geschlagen, sechs
       Tage war sie praktisch in der Hölle. Was die Machthaber mit meinen Freunden
       gemacht haben, kann ich nicht verzeihen“, wandte sich die bekannte
       Moderatorin kultureller Programme, Katerina Wodonosowa, an die vor dem
       Fernsehhaus versammelten streikenden Mitarbeiter und erklärte gleichzeitig,
       dass sie ihren Dienst beim Fernsehen quittiert habe.
       
       Am Sonntag waren in zahlreichen Städten in Belarus Hunderttausende auf die
       Straße gegangen. Allein in Minsk hatten sich unterschiedlichen Angaben
       zufolge zwischen 100.000 und 500.000 Menschen am „Marsch für die Freiheit“
       beteiligt.
       
       Erstmalig waren am Sonntag auch Anhänger von Lukaschenko mobilisiert
       worden. Nach Angaben des Innenministeriums hatten 70.000 Menschen diese
       Kundgebung besucht, unabhängige belarussische Medien sprechen hingegen von
       maximal 10.000.
       
       Wenn Belarus, wie von Litauen, Lettland, Polen und der Ukraine gefordert,
       Neuwahlen durchführe, „sterben wir als Nation“, warnte Lukaschenko in
       seiner Ansprache. „Ich bin sehr lebendig und ich werde leben“, gab sich der
       Präsident kämpferisch. Am Montag hieß es dann, er sei mit Neuwahlen unter
       der Bedingung einverstanden, wenn es eine neue Verfassung gebe. Spiel auf
       Zeit, so scheint es.
       
       Lukaschenkos Macht bröckelt. Inzwischen hat auch Sergej Rumas, der noch bis
       zum 3. Juni Ministerpräsident war, seine Wut über die Gewalt an
       Demonstranten öffentlich gemacht. Und am Montag hat Lukaschenko sogar seine
       Bereitschaft erklärt, so die Nachrichtenagentur tut.by, einen Teil seiner
       Machtbefugnisse abzugeben.
       
       ## Bürgermeister werden niedergeschrien
       
       Der belarussische Journalist Franak Wjatschorka berichtet gegenüber der
       Current Time, dass hohe Beamte der Sicherheitskräfte, Ministerien und
       Offiziere der Armee Kontakt zur Opposition suchten. „Alle haben begriffen,
       dass man besser auf der Seite der Gewinner und nicht des Losers ist“,
       begründet Wjatschorka die neue informelle Gesprächsbereitschaft.
       
       In vielen Städten sind Bürgermeister und andere hohe Verwaltungsbedienstete
       in einen Dialog mit der Opposition getreten. Und diese Treffen zeigen, wie
       sehr die Vertreter der Macht außerhalb der Hauptstadt in der Defensive
       sind.
       
       Bei einem Treffen mit Demonstranten musste sich der Bürgermeister der
       Großstadt Brest, Alexander Rogatschuk, den Unmut seiner BürgerInnen
       anhören. Kaum war er in Begleitung des örtlichen Polizeichefs, des
       städtischen Staatsanwaltes und des leitenden Ermittlungsbeamten vor die
       Demonstrierenden getreten, wurde die Gruppe mit Rufen wie „Mörder“ und „Wir
       verzeihen euch nicht“ niedergeschrien. Und als der Bürgermeister
       berichtete, er habe sich mit den Forderungen der Protestierenden vertraut
       gemacht, schrie ihm die Menge ein „Dann erfülle auch diese Forderungen“ und
       „Tritt zurück, du Schwätzer“ entgegen.
       
       ## Lukaschenkos Macht bröckelt
       
       In Hrodna, in der Nähe des Dreiländerecks mit Polen und Litauen,
       kritisierte Igor Loban, ein Offizier der staatlichen Ermittlungsbehörden,
       auf Instagram das brutale Vorgehen der Polizei und erklärte gleichzeitig,
       Innenminister Jurij Karaejew müsse verstehen, dass Derartiges
       strafrechtliche Konsequenzen habe.
       
       Unterdessen werden weitere Gefangene freigelassen. Derzeit seien noch 122
       Personen in Haft, zitiert die Nachrichtenagentur naviny.by eine Sprecherin
       des Innenministeriums.
       
       Für Mittwoch hat EU-Ratspräsident Charles Michel einen Sondergipfel der EU
       zu Belarus einberufen. Die Menschen in Belarus hätten das Recht, über ihre
       Zukunft zu entscheiden und ihre Führung frei zu wählen, so Michel. Gewalt
       gegen die Demonstranten sei inakzeptabel.
       
       17 Aug 2020
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Clasen
       
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