# taz.de -- Neuauflage der „Männerphantasien“: Angst essen Männer auf
> Theweleits Buch ist so aktuell wie vor 40 Jahren. Die sexualisierte Form
> der Gewalt von Männern gegen Frauen ist Teil des alltäglichen Diskurses.
IMG Bild: Freikorpssoldaten in Berlin 1923
Wenn man Klaus Theweleits Buch [1][„Männerphantasien“] liest, fast 1.300
Seiten, 1977/1978 zum ersten Mal erschienen und in der aktuellen wuchtigen
Neuausgabe in einem schönen pinkfarbenen Umschlag, dann ist es, als ob man
100 Jahre in der deutschen Geschichte zurücksteigt, zur
Kriegsverherrlichung, zu den Fronterlebnissen und Umsturzfantasien der
Freikorps, was ziemlich direkt zum Nationalsozialismus und zum
millionenfachen Mord an den Juden Europas führte.
Und man landet auf den Kommentarspalten und auf den Plattformen der
digitalen Welt. Denn die Gewalt, von der Theweleit erzählt und dabei den
Faschismus erklärt, diese Gewalt ist ja nicht verschwunden; sie hat nur
eine andere Form und Gestalt: die Gewalt von Männern gegen Frauen, die sich
darin äußert, dass – das sind einige der Beispiele Theweleits – die Namen
der eigenen Frauen selbst in intimen männlichen Selbstbeschreibungen,
Briefen, Tagebüchern nicht genannt werden.
Dass die Frauen zu Objekten werden, der Begierde oder des Hasses, diese
Angst und Aggression von Männern, die Frauen körperlich vernichten wollen,
auslöschen, durch ihre Worte und Taten. Und weil Theweleits Buch so präzise
ist in der Beschreibung dieser Wut, die sich aus vielen Quellen speiste und
speist und im Fall der Freikorps eher eine Form der gebildeten oder sogar
höheren Schichten war – deshalb gelingt, leider, ziemlich mühelos der
Sprung von den Prägungen und Pathologien der 1920er zu denen der 2020er
Jahre.
Theweleit wollte, knapp 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, eine andere
Grundlage für die Analyse des Faschismus finden, eine andere
Faschismus-Theorie, die den Körper, die Lust und den Ekel zum Anfang dieser
Analyse machen – und nun, mehr als 40 Jahre nach Veröffentlichung, ist die
sexualisierte Form von Gewalt von Männern gegen Frauen wieder so
offensichtlich, so weitreichend bis in bürgerliche Medien hinein.
## Sprung von den 1920er Jahren zu 2020
Sie ist so selbstverständlich eine Waffe in der politischen und
gesellschaftlichen Auseinandersetzung, dass das Faschistische in unserer
Zeit, [2][das Faschistische in diesen Mechanismen nackt und bedrohlich vor
uns] tritt. Theweleit beschreibt diese Mischung aus Verklemmtheit und
Enthemmung, die unterdrückte und eskalierende Sexualität, die Vision eines
Lebens, das im Kampf und in der Feindschaft geführt wird und letztlich im
Heldentod, in der Auslöschung enden muss.
Ernst Jünger etwa, gern heute wieder entpolitisiert rezipiert, der auf der
Straße eine Frau anspricht, die Ehefrau eines Arbeiters: „Es ist eine
Stunde des Vergessens, die ich dem Kriege stehle. Ich bin ihr Mann, dem
Feuerkreis entronnen und sitze mit ihr Hand in Hand, still und friedlich
vorm Kamin. Morgen, ja morgen vielleicht wird mir das Hirn in Flammen
zerspritzen. Sei’s drum“, schreibt er, und schließlich: „Ich gehe über die
Brücke zur Stadt zurück, die Hände in den Manteltaschen, den Kopf gesenkt.
Bei jedem Schritt klirren die Sporen.“
Männliche Einsamkeit, männliche Verlorenheit, die zu männlicher Aggression
führt: Die Verbindung von Verachtung für die Frau, männerbündische
Verbundenheit, Widerstand gegen Demokratie, Pluralismus, Emanzipation bis
hin zu einem offen rassistischem Weltbild, das sind einige der Faktoren,
die Theweleit anhand von vielen Texten analysiert, geschrieben von Männern,
die immer im Kampf sind, so klingt das.
Tagebücher, Briefe, Romane, Quellen des Hasses, manchmal des versteckten
Selbsthasses, ausgetragen über den Körper, den Körper der Frau, die als
Objekt gesehen wird, entsexualisiert und verklärt oder übersexualisiert und
verdammt, als Feind.
Bei der Bewegung der Incels – den „involuntary celibates“, den unfreiwillig
Sexlosen also, vor allem in den USA und Kanada, ein „männliches und
rassistisches Online-Ökosystem“, wie es das Southern Poverty Law Center
nennt – etwa spielt die Dynamik, die auch die Freikorps antrieb, eine
zentrale Rolle. Seit 2014 gehen mindestens 44 Tote auf das Konto von
Männern, die sich als Mitglieder bezeichnet haben, etwa der Angriff auf
einen Massagesalon in Toronto im Februar 2020
## Männliche Einsamkeit führt zu männlicher Aggression
Theweleit schildert für die Freikorps der 1920er Jahre, wie aus Sprache
Gewalt wird, wie sich ein Denken in diesen „soldatischen Männern“ formt,
wie er sie nennt, um nicht immer von Faschisten zu sprechen, ein Denken,
das zu Taten führt, individuellen und dann mehr als das, Diktatur, Krieg,
Massenmord – Theweleit interessiert die spezifische Gewalt, die in diesen
Männern steckt, die aus ihren Ängsten, Frauenbildern, Mütterbildern stammt.
Und eine Form dieser Gewalt ist heute das, was Männer, soldatische Männer
im Internet gegen Frauen unternehmen. Gerade hat die [3][Klima-Aktivistin
Luisa Neubauer] eine einstweilige Verfügung gegen den Schriftsteller Akif
Pirinçci in einem solchen Fall erwirkt, und diese Art der sexualisierten
Hate Speech gegen Frauen hat System in der gegenwärtigen politischen
Auseinandersetzung.
Eine Form der Menschenverachtung, die eben, und dafür ist die Lektüre von
Theweleits wichtigem Buch so erhellend, in vielem nah ist an der Krassheit
der Freikorps, in verschiedensten Formen, die Liste ist lang. Da ist
[4][Ricarda Lang] aus dem Bundesvorstand der Grünen, die von der AfD
attackiert wird, nicht über Argumente, sondern über ihren Körper; da ist
der digitale Mob, der sich auf Natascha Strobl stürzt, Expertin in Sachen
Rechtsextremismus, Hass angefacht auch von Medien.
Theweleit, so beschreibt er es in seinem Nachwort, unternahm „den Versuch
zu ergründen und zu beschreiben, warum es Körper gibt, überwiegend
männliche Körper, die nicht leben können, d. h., die nicht atmen können,
ohne irgendjemand oder irgendwas aus dem Weg zu schaffen; zum Verschwinden
zu bringen“. Diese Definition von Faschismus ist gültig und nützlich, um
die gegenwärtigen Verhältnisse zu verstehen.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Text wurde am 25. August 2020 um 13:27 Uhr
geändert. Es handelte sich nicht um einen Prozess, sondern um eine
einstweilige Verfügung gegen den Schriftsteller Akif Pirinçci.
20 Aug 2020
## LINKS
DIR [1] /Neuauflage-von-Maennerphantasien/!5647222&s=klaus+theweleit/
DIR [2] /Expertin-ueber-Frauenhass-und-Rassismus/!5695487&s=sexualisierte+gewalt/
DIR [3] https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/luisa-neubauer-ueber-hatespeech-was-ueber-mich-geschrieben-wird-ist-schon-krass-a-19bd80bb-4fec-4fea-8e11-85b817c05bf3
DIR [4] /Digitales-Streitgespraech/!5681507&s=ricarda+lang/
## AUTOREN
DIR Georg Diez
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