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       # taz.de -- Kunstausstellung in Chemnitz: Evolution in Sächsisch-Manchester
       
       > Eine Ausstellung in Chemnitz widmet sich den komplizierten „Gegenwarten“.
       > Sie ist Teil der Bewerbung zu Europäischen Kulturhauptstadt.
       
   IMG Bild: Patricia Kaersenhout taucht die „Bazillenröhre“ in violettes Licht
       
       Als [1][die Künstlerin Henrike Naumann] 2019 für eine Ausstellung nach
       Chemnitz reiste, buchte sie vorab im Internet ein Hotelzimmer. Gut gelegen
       und nicht Teil einer großen Kette sollte es sein, und ihre Wahl fiel auf
       das Hotel Elisenhof. Spät am Abend kam sie in der Stadt an und bemerkte
       erst beim Blick auf Google Maps, wohin sie unterwegs war: Das Hotel teilt
       die Adresse mit einem Laden, der die in der rechtsextremen Szene beliebte
       Modemarke Thor Steinar vertreibt.
       
       Naumann erzählt am Rande der Pressevorbesichtigung des Chemnitzer
       Ausstellungsprojekts „Gegenwarten“ davon, wie sie sich in dieser Nacht
       unangenehme Begegnungen im Frühstücksraum ausmalte. Es ist der Donnerstag
       vor der Eröffnung. Die Mittagssonne steht brütend über dem ausgestorbenen
       Bürgersteig der Brückenstraße, die vor der Wende Karl-Marx-Allee hieß. Sie
       knallt auf [2][die Gedenkplatte, die ins Pflaster eingelassen wurde,] für
       Daniel H., nach dessen gewaltsamem Tod im Spätsommer 2018 Rechte aus der
       ganzen Republik tagelang durch die Stadt zogen.
       
       Sie heizt wenige Schritte davon entfernt die Steine der „Lobgedichte“ auf,
       ein vierteiliges Skulpturenensemble aus dem Jahr 1972, entworfen von
       Joachim Jastram nach Gedichten von Bertolt Brecht, das die Entwicklung des
       Menschen auf dem Weg zum Kommunismus illustriert.
       
       [3][Chemnitz ist eine Stadt, in die sich die Geschichte sichtbar gebohrt
       hat, in den Asphalt und den Beton]. Wie kaum eine andere habe die
       sächsische Stadt in ihrer historischen Entwicklung historische Brüche
       erlebt, heißt es in der Pressemitteilung zu „Gegenwarten“: Im frühen 20.
       Jahrhundert eine der reichsten Industriestädte Deutschlands, 1945 zerbombt,
       später Musterstadt des DDR-Sozialismus, heute verbunden oder gar
       gleichgesetzt mit Bildern von Hass, Gewalt und Konflikt.
       
       [4][2025 will Chemnitz Europäische Kulturhauptstadt werden.] „Gegenwarten“
       ist Teil der Bewerbung, 20 ortsspezifische neue Projekte von Künstler*innen
       und Kollektiven sind im öffentlichen Raum zu sehen, darunter
       Interventionen, Skulpturen und Installationen.
       
       Auch sie stehen freilich unter den Abstandsregelungen im Rahmen der
       Coronapandemie: Vieles musste an die erschwerten Bedingungen angepasst,
       manches konnte gar nicht realisiert werden, anderes hat durch alles, was
       diese Pandemie mit sich brachte, sogar noch an Relevanz gewonnen. Womöglich
       ist „Gegenwarten“, kuratiert von Florian Matzner und Sarah Sigmund und
       veranstaltet von den Kunstsammlungen Chemnitz, aktuell das Interessanteste,
       was man sich ansehen kann.
       
       Kontroversen schon vor der Eröffnung 
       
       Viel Wind hatte rund um das vergangene Eröffnungswochenende einer der 20
       Beiträge gemacht. Schon im Vorfeld k[5][ontrovers diskutiert wurde die
       Idee des Peng! Collective], eine Antifa-Ausstellung im Shop der
       Kunstsammlungen zu installieren, – für einen Teil seines Produktionsbudgets
       kaufte das Kollektiv antifaschistischen Gruppen Objekte und Insignien des
       Widerstands, ab, die wiederum am Samstag zugunsten lokaler
       antifaschistischer Akteur*innen versteigert werden sollen.
       
       Kurz vor der Eröffnung kam es fast zum Eklat, [6][kurzfristig verkündete
       Peng! in einem Statement gar das Aus seiner Ausstellung]. Inzwischen sind
       die Wogen wieder geglättet, die Schau wurde wie geplant eröffnet – und zog
       noch ein paar mehr Schaulustige an. Lange Schlangen bildeten sich am
       Eröffnungswochenende vor allem am Eingang zu den Kunstsammlungen, zur
       Ausstellung von Peng!.
       
       Ein wenig unfair ist dieser ganze Rummel gegenüber den 19 anderen
       Positionen, die künstlerisch größtenteils spannender sind. Bei manchen ist
       es wortwörtlich die Perspektive, die den Unterschied macht.
       
       Den „Wandelgang“ der niederländischen Künstlergruppe Observatorium etwa,
       eine torartige Holzkonstruktion, versteht man als Nichtchemnitzer*in nur,
       wenn man von Weitem darauf blickt, auf dieses merkwürdige sackgassenartige
       Ende, an dem die 30 Meter breite Brückenstraße in eine schmale
       Fahrradbrücke übergeht. „Was beginnt am Ende, was hört am Anfang auf?“,
       steht vielsagend darauf geschrieben, ein Satz der Chemnitzer Lyrikerin
       Barbara Köhler. Was kommt? Wohin soll es gehen?
       
       Auf der Tour, die sich übrigens sehr gut zu Fuß bewältigen lässt, geht es
       weiter zum Schlossteich, auch er ein Ort, an dem Nazis gegen andere
       Menschen gewalttätig wurden. Roman Signer hat dort einen Škoda versenkt,
       als Sinnbild des zu Ende gehenden Autozeitalters. Noch eine Arbeit, die
       polarisierte und von Unbekannten sogar schon demoliert wurde – aber: „bei
       Kunst im öffentlichen Raum passiert so etwas immer“, winkt Kurator Matzner
       ab.
       
       Kunst will Begegnungen schaffen 
       
       Überhaupt soll der Eindruck nicht täuschen. Das Interesse der Chemnitzer
       Bevölkerung ist da. Vorbildlich wurde darauf geachtet, diese sowie lokale
       Initiativen einzubinden, den Verein Klub Solitaer etwa, der seit zehn
       Jahren im ehemaligen Arbeiterviertel Sonnenberg agiert und dort nun eine
       Antigalerie eingerichtet hat, über die gespendete Kunstwerke an
       Bewohner*innen des Viertels unentgeltlich, dafür aber gegen Geschichten
       vermittelt werden.
       
       Anna Witt befragte Chemnitzer*innen für ihre Installation zu ihrer
       Beziehung zu den Grundrechten. Mischa Kuball baute ihnen an den
       „Lobgedichten“ eine Bühne. Zugänglich zu bleiben versuchen auch alle
       anderen, Philip Kojo Metz mit Werbepostern für eine noch zu realisierende
       afrofuturistische Wagner-Oper mit einem Ensemble aus People of Color und
       Tobias Zielony mit einem schaurig-komischen Zombie-Film über den „untoten“
       NSU.
       
       Zugänglich, aber doch nicht leicht zu verdauen, so, wie ja auch diese
       unsere Gegenwarten, in Chemnitz wie anderswo, sind. Auch der 24fach
       vergrößerte Darm von Karl Marx – der Faktor entspricht dem des ikonischen
       „Nischl“, des großen Marx-Kopfes in der Innenstadt – von Anetta Mona Chişa
       und Lucia Tkáčová hilft da nicht, bietet eher selbst neuen Stoff.
       
       Heterogenität der Zeiten 
       
       Und Henrike Naumann? Die hat das Hotel Elisenhof letztlich zum Filmset für
       ihren Beitrag „Evolution Chemnitz“ gemacht: Der Titel ist auch eine
       Anspielung auf die rechtsterroristische Gruppierung Revolution Chemnitz.
       Naumann buchte Zimmer auf mehreren Etagen, drehte darin fünf Videos, die
       revolutionäre Bewegungen und Prozesse aus 100 Jahren Stadtgeschichte aufs
       Tableau bringen: Chemnitz 1919, 1945, 1992, 1998 und 2018.
       
       Wie die Stockwerke des Hotels schichtete sie die historischen Ebenen
       übereinander, ließ Bezüge hervortreten, Widersprüche, Analogien, das
       Nebeneinander von Extremismus und Normalität – wie auch in ihrer
       Installation im Foyer des Museums Gunzenhauser, die ganz im lieblichen
       90er-Jahre-Pastell der Hoteleinrichtung gehalten ist.
       
       Widersprüchlich, heterogen, so wie die Zeiten sind. Eigentlich geht es
       trotz aller Nähe nie nur um Chemnitz, die Phänomene sind global. Am 28.
       Oktober aber doch wieder: Dann entscheidet sich, ob es etwas wird mit
       Chemnitz als Europäischer Kulturhauptstadt 2025.
       
       20 Aug 2020
       
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