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       # taz.de -- TikTok und Datensicherheit: Das nette chinesische Unternehmen
       
       > Der US-Präsident führt einen Privatkrieg gegen das soziale Netzwerk
       > TikTok wegen angeblicher Spionage. Wofür es die Nutzerdaten verwendet,
       > ist unklar.
       
   IMG Bild: Protestvideos aus Hongkong oder über den Genozid an den Uiguren würden Usern seltener angezeigt
       
       Bis zum 15. September soll die chinesische Unterhaltungs-App [1][TikTok]
       nach dem Willen des amerikanischen Präsidenten Trump an ein „nettes,
       amerikanisches Unternehmen“ verkauft werden. Das chinesische Unternehmen
       Bytedance, das Tiktok betreibt, verhandelt unter anderem mit Microsoft und
       Twitter, hat aber gleichzeitig gegen die Verkaufsauflage in den USA
       geklagt.
       
       Auch die EU untersucht derzeit Tiktok, das vor allem bei Kindern und
       Teenagern beliebt ist. Und derzeit prüfen auch das
       Bundesgesundheitsministerium und die Landesregierung des Saarlands, ob sie
       den Kanal weiterhin nutzen wollen.
       
       Das erscheint wie ganz schön viel Drama um eine Smartphone-App, die bis vor
       Kurzem vor allem als Superspreader für neue Tanzmoves und Teeniewitze
       bekannt war. Nun kann man sich zu Recht fragen, ob eine App, die ihre
       Nutzer mit einem ununterbrochenen Strom von Kurzvideos bombardiert, ein
       kultureller Fortschritt ist.
       
       Tiktok wird aber nicht wegen der Verbreitung von Flachsinn international
       untersucht und geprüft. Die amerikanische Regierung wirft dem Unternehmen
       immerhin vor, dass die App die nationalen Sicherheitsinteressen der USA
       verletze. Donald Trump scheint aus taktischen Gründen während des
       US-Wahlkampfs geradezu [2][einen Privatkrieg gegen Tiktok zu führen] –
       eigentlich ungeheuerlich, dass sich ein amerikanischer Präsident so an
       einer Mobiltelefon-App abarbeitet.
       
       ## Shadowban
       
       Von anderer Seite wird die App dafür kritisiert, dass sie kontroverse
       Inhalte unterdrücken würde – besonders solche, die der chinesischen
       Regierung missfallen. Protestvideos aus Hongkong oder über den Genozid an
       den Uiguren würden von dem Unternehmen zwar nicht gelöscht, aber mit einem
       „Shadowban“ belegt – also den Nutzern selten angezeigt.
       
       Die Belege für den ersten Vorwurf sind dürftig. Zwar [3][meldete das Wall
       Street Journal in der vergangenen Woche], dass Tiktok in der Vergangenheit
       Daten seiner Nutzer gesammelt habe, mit denen man den Standort ihrer Handys
       orten kann. Tiktok hat das allerdings bereits im November 2019 eingestellt;
       ähnliche Daten werden auch von anderen sozialen Medien gesammelt. Generell
       basiert das Geschäftsmodell von allen großen Internetunternehmen darauf, so
       viele Daten wie möglich von ihren Nutzern zu speichern. Das macht es nicht
       besser, aber Tiktok scheint dabei nicht aggressiver als andere Unternehmen
       vorzugehen.
       
       Dass China das Unternehmen zwingen könnte, Nutzerdaten weiterzugeben, hat
       Tiktok-Gründer Zhang Yiming bestritten, denn die lägen auf Servern in den
       USA und Singapur. Aber die chinesische Regierung agiert mittlerweile wie
       die Mafia, die bekanntlich „Methoden hat, dich zum Reden zu bringen“.
       Dieses Versprechen ist also wenig wert, und persönliche Informationen in
       der Hand dieser durchdigitalisierten Diktatur sind in der Tat eine
       albtraumhafte Vorstellung. Allerdings wissen wir seit den
       Snowden-Enthüllungen auch, dass amerikanische Geheimdienste schon lange
       international Userdaten aus den sozialen Medien abgreifen.
       
       Ansonsten hat sich Tiktok in der Vergangenheit meist mustergültig verhalten
       und den Forderungen entsprochen, die an chinesische Internetunternehmen zu
       Recht herangetragen werden. Zunächst einmal ist die App keine Kopie von
       amerikanischen Internetgeschäftsmodellen, wie das bei vielen anderen
       chinesischen Unternehmen der Fall ist. Der Erfolg von Tiktok beruht auf
       einem komplett originären Konzept.
       
       Weiterhin hat Tiktok von Anfang an versucht, auf der eigenen Plattform
       durch Moderation ein Mindestmaß an Ordnung sicherzustellen. Andere soziale
       Medien wie Facebook, Youtube oder Twitter empfanden das jahrelang als
       unnötig. Sie behaupteten wahlweise, dass dies ein Eingriff in die
       Meinungsfreiheit sei oder wegen der Masse an Nutzerinteraktion schlicht
       nicht möglich. Erst unter dem zunehmenden Druck der Öffentlichkeit begann
       man zähneknirschend und nachlässig damit, wenigstens einigen der übelsten
       Lügnern und Hetzern das Handwerk zu legen.
       
       Neonazis, Antisemiten und Spinnern wie dem selbst ernannten „Volkslehrer“
       Nikolai Nerling in Deutschland oder dem Identitären-Quatschkopf Martin
       Sellner in Österreich wurde bei Youtube erst der Kanal weggenommen, als sie
       über die Plattform ihr Publikum gefunden hatten. Schwurbelkoch Attila
       Hildmann ist sogar bis heute regelmäßig bei Youtube aktiv.
       
       ## Das Sündenregister ist kurz
       
       In den USA konnten die Russen über Facebook und andere soziale Medien 2016
       Einfluss auf die Präsidentschaftswahlen nehmen. In den Philippinen trug die
       Plattform zum Wahlsieg des diktatorischen Staatschefs Rodrigo Duterte bei.
       In Myanmar führten auf Facebook gestreute Propagandalügen zur gewaltsamen
       Vertreibung der Rohingya nach Bangladesch. Im Vergleich dazu ist das
       Sündenregister von Tiktok kurz.
       
       Zwar ist dem Konzern in der Vergangenheit vorgeworfen worden, kontroverse
       politische Themen zu unterdrücken: Videos über den Polizeimord an George
       Floyd wurden zeitweise nicht verbreitet. Auf Protest hin hat das
       Unternehmen aber schnell reagiert, und inzwischen werden bei Tiktok viele
       politische Videos veröffentlicht.
       
       Für die große Zahl der Teilnehmer an den Black-Live-Matters-Demonstrationen
       war die App zumindest mitverantwortlich. Die Covidioten, die Anfang August
       durch den Berliner Tiergarten zogen, dürften hingegen Absolventen der
       „Youtube-Uni“ gewesen sein, wo sie durch ein maßgeschneidertes Programm von
       Verschwörungsvideos radikalisiert wurden.
       
       ## For You
       
       Wer danach sucht, findet auch bei TikTok die netzüblichen Rassisten,
       Sexisten, Schwurbler und Spinner. Aber für viele Nutzer der App ist gerade
       die „For-You“-Seite der entscheidende Vorteil der Plattform, die komplett
       auf die individuellen Vorlieben maßgeschneiderte Videos liefert, [4][sodass
       man nicht in derartige Blasen abdriftet], wenn man das nicht will – ganz
       anders als beispielsweise bei Youtube, wo man vom Algorithmus schnell ins
       Reich der Aluhüte befördert wird.
       
       Zu den problematischsten Aspekten von Tiktok gehört, dass sich idiotische
       bis lebensgefährliche Wettbewerbe in Lichtgeschwindigkeit um den Globus
       verbreiten – wie etwa der „Superglue Challenge“, bei dem sich letzte Woche
       eine Schülerin in Mannheim mit Sekundenkleber an eine Stange geklebt hat
       und von der Feuerwehr befreit werden musste. Aber auch bei solch
       gefährlichem Unsinn schreiten die Moderatoren inzwischen meist schnell ein.
       
       Letztlich genießt Tiktok wie alle anderen sozialen Medien eine Art
       Hausrecht; es macht bloß offensiver davon Gebrauch als andere Anbieter.
       Wenn die Firma ihre Plattform vor allem als Unterhaltungsangebot betreiben
       möchte, ist das ihr gutes Recht. Man kann das problematisch finden. Aber
       problematisch ist wohl vor allem, dass ein großer Teil der
       gesellschaftlichen Kommunikation inzwischen in Kanälen stattfindet, die
       profitorientiert sind und von internationalen Konzernen betrieben werden,
       über deren inhaltliche Entscheidungen man wenig weiß.
       
       ## Abhörversuch oder Bug?
       
       Das größte Problem bei Tiktok ist dasselbe wie bei allen anderen sozialen
       Netzwerken: Mangel an Informationen über ihre Funktionsweise. Wenn durch
       Zufall herauskommt, dass die App zwischengespeicherte Daten vom Smartphones
       an das Unternehmen übertragen hat, kann das ein Abhörversuch sein, wie von
       den USA behauptet. Oder aber einfach ein Fehler im Programm, wie Tiktok
       sich verteidigt hat. Man weiß es einfach nicht. Niemand außerhalb des
       Unternehmens weiß, wie die Algorithmen von Tiktok programmiert sind oder
       warum sie ihren Nutzern bestimmte Videos zeigen. Niemand weiß, wie Tiktok
       die Daten verwendet, die die Firma sammelt. Niemand weiß, wie es seine
       Nutzerregeln erstellt und wie es diese durchsetzt.
       
       Darum müsste man von dem Unternehmen verlangen, seine Software als
       Open-Source-Programme im Netz öffentlich zugänglich zu machen. Die Methoden
       der Datenerfassung und -verarbeitung müssten ebenso transparent sein wie
       die internen Richtlinien für die Moderation von Inhalten. Den Nutzern von
       Tiktok müsste wie bei einer Genossenschaft über gewählte Vertreter Einfluss
       auf Geschäftsentscheidungen und inhaltliche Entwicklung eingeräumt werden,
       denn von ihnen stammen sämtliche Videos, die bei Tiktok gezeigt werden. Und
       wenn man schon mal dabei ist, müsste man diese Regeln auch gleich auf
       Facebook, Youtube und Co anwenden.
       
       Die Internetunternehmen würden wohl einwenden, dass solche Algorithmen und
       Prozesse geschützte Geschäftsgeheimnisse seien – wie die Formel für
       Coca-Cola. Aber Limonade ist im schlimmsten Fall für schlechte Zähne und
       Übergewicht verantwortlich. Die sozialen Medien hingegen beeinflussen die
       öffentliche Meinung und verstopfen immer mehr Nutzern den Kopf mit
       Propagandalügen und hanebüchenem Unsinn über Impfungen, Immigration und
       Echsenmenschen. Wer mit Verdummung und gesellschaftlicher Polarisierung
       sein Geld verdient, kann sich in einer demokratischen Gesellschaft nicht
       hinter dem Copyright verstecken.
       
       Wichtig wäre auch die Einrichtung von „Datencontainern“. Diese Idee stammt
       von Tim Berners-Lee, dem Erfinder des WorldWideWeb, der dafür das
       gemeinnützige Unternehmen Solid gegründet hat. Mit deren Hilfe sollten
       Nutzer ihre persönlichen Daten von einem Internetanbieter zum nächsten
       mitnehmen können. Denn im Augenblick basiert die Macht der gängigen
       Plattformen vor allem darauf, dass sie so viel über ihre Nutzer wissen.
       
       Wenn man sich mit denselben Daten statt bei Facebook oder Instagram auch
       bei alternativen sozialen Netzwerken wie Diaspora oder Ello anmelden
       könnte, wäre das auch ein Beitrag zum Wettbewerb im Internet. Denn im
       Augenblick führt die Datensammelei der großen Plattformen absurderweise
       auch noch dazu, ihre Monopolstellung zu festigen.
       
       15 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.tiktok.com/de/
   DIR [2] /US-Druck-auf-chinesische-App-TikTok/!5705835
   DIR [3] https://www.wsj.com/articles/tiktok-tracked-user-data-using-tactic-banned-by-google-11597176738
   DIR [4] /Polit-Aktivismus-auf-App-Tiktok/!5700164
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tilman Baumgärtel
       
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