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       # taz.de -- Leben mit Corona: Das neue Normal
       
       > Der Applaus für Pflegekräfte ist verhallt, die Maske Alltag: die neue
       > Coronarealität. Ist das schlecht oder ist der neue Realismus auch eine
       > Chance?
       
   IMG Bild: Masken aus dem Automaten am U-Bahnhof Turmstraße in Berlin-Moabit
       
       Im Frühjahr, als die Schulen geschlossen waren, der Osterbesuch bei den
       Großeltern abgesagt und jeden Morgen bewegungsbedürftige HeimarbeiterInnen
       auf ihrer Joggingrunde an meiner Haustür vorbeischlappten, pflegte mein
       Kind beim Frühstück einen tiefen Seufzer über der Cornflakesschüssel zu tun
       und zu fragen, wann Corona „denn endlich mal vorbei“ sei. In der Redaktion
       planten wir derweil hoffnungsvoll den ersten Post-Corona-Themenschwerpunkt
       für so Pi mal Daumen Ende Mai.
       
       Irgendwann kapierte man dann, dass es ein „Post-“ so schnell nicht geben
       wird, und das Kind fragt inzwischen auch nicht mehr. Dafür sagt es
       routiniert: „Mama, Maske!“, sobald wir uns der S-Bahn-Station, der Kitatür
       oder einer Einrichtung des Einzelhandels nähern.
       
       Für das Kind und in den Redaktionskonferenzen, im Alltag vieler Menschen
       ist Corona nicht mehr Krise, sondern Routine. Normalität.
       
       Tatsächlich ging ja eigentlich nur der Lockdown vorüber, die Krise ist
       natürlich noch da, wir haben uns mit ihr arrangiert. Aber ob wir die Krise
       noch als solche empfinden, hängt inzwischen sehr davon ab, wie stark wir
       betroffen sind. Sie ist gewissermaßen in unseren wieder einigermaßen
       normalen Alltag diffundiert.
       
       ## Eine kollektive Krisenerfahrung
       
       Für die einen, mich eingeschlossen, bedeutet Corona gerade nicht viel mehr
       Einschränkung als „Mama, Maske!“ und tägliche Zoom-Konferenzen auf der
       Arbeit. Die Kinder gehen wieder in die Schule und in die Kita, der Job ist
       noch da, auch wenn er mitunter am Küchentisch stattfindet, der des Partners
       auch.
       
       Andere, den einen Nachbarn zum Beispiel, hat die Krise arbeitslos gemacht
       und bisher auch glücklos bei der Suche nach einem neuen Job zurückgelassen.
       Der freie Theaterregisseur im Bekanntenkreis sagt, es sei seine Rettung
       gewesen, dass er kurz vor Corona eine Elternzeitvertretung in einem großen
       Unternehmen angenommen habe – weil es seinen eigentlichen Job erst mal
       nicht mehr gab und die Aussichten mit Blick auf die steigenden
       Infektionszahlen im Herbst für jemanden wie ihn auch völlig unklar sind.
       
       Schule, Kita und Handel hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) als
       diejenigen Bereiche benannt, für die ein neuerlicher Lockdown um jeden
       Preis verhindert werden müsse. Feiern und Veranstaltungen, das hat auch
       Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) diese Woche gesagt,
       dürften hingegen die Bereiche sein, die als Erstes wieder dichtgemacht
       werden. Der Lockdown war eine Ausnahmesituation, deshalb hat er die
       Menschen – aber nur vermeintlich – in so etwas wie einer kollektiven
       Krisenerfahrung vereint. Die weniger Belasteten empfanden, den besonders
       Belasteten helfen zu müssen.
       
       Auch bei uns in der Straße wurde den Pflegekräften applaudiert. Und jeden
       Freitag um 17 Uhr gab es ein paar Häuser weiter Theater auf dem Balkon, zur
       moralischen Unterstützung quasi, weil jeden Abend joggen gehen ja auf Dauer
       auch keine Kultur ist. Und ganz banal gab es auch deshalb Theater für alle,
       weil die KünstlerInnen später noch irgendwie ihr Abendbrot einkaufen gehen
       mussten, weshalb die PassantInnen auch gerne Geld in die Spendendose fallen
       ließen.
       
       ## Wo ist unser Mitleid hin?
       
       Jetzt, da die Ausnahmesituation vorüber ist und die Krise das neue
       Normal, kämpft wieder jeder für sich. „Mitleid ist eine erschöpfliche
       Emotion“, sagt der Berliner Psychologe Mazda Adli. Ich glaube, dass er sehr
       recht hat damit.
       
       Die BalkonkünstlerInnen bei uns in der Straße sind vielleicht immer noch
       ohne Einkommen, weil die Auftrittsmöglichkeiten nach wie vor stark
       eingeschränkt sind. Ich denke aber nicht mehr darüber nach, wo eigentlich
       mein Mitleid hin ist, wenn ich die Straße hinuntergehe. An die
       Spendenbüchse habe ich nur gedacht, weil ich gerade diesen Text schreibe.
       Das ist vermutlich normal und gar nicht verwerflich, denn wer funktioniert
       schon dauerhaft im Krisenmodus? Aber es rückt auch zurecht, was man
       gesellschaftlich alles von dieser Krise erwartet hat.
       
       Solidarität mit den Pflegekräften und den Gebeutelten dieser Krise? Der
       Applaus ist lange verhallt, die Forderung unter anderem von
       Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) nach einer Bundesratsinitative
       für eine bessere Bezahlung dieser Berufsgruppe versandet, wie das
       freundliche Appelle dieser Art an sich haben. Und hat noch mal jemand etwas
       von der Coronaprämie gehört, die der Regierende Michael Müller (SPD) den
       Landesbediensteten in den Krankenhäusern zahlen wollte? Die Soforthilfen
       des Senats für die Soloselbstständigen schließlich waren am Ende für viele
       keine Hilfe, sondern ein bürokratisches Nullsummenspiel.
       
       Die Hoffnung, dass sich unser Alltag entschleunigt, dass wir unser
       Zeitmanagement wieder selbstbewusster in die Hand nehmen, statt uns alles
       von Meetings und dem üblichen Freizeitstress nach Feierabend diktieren zu
       lassen? Theoretisch habe ich darüber mit einem Zeitforscher mal in einem
       Interview geredet (da redeten wir in der Redaktion auch noch über einen
       Post-Corona-Schwerpunkt). Praktisch rase ich weiter, wie eh und je. Wenn
       ich mir meinen Freundes- und KollegInnenkreis anschaue, bin ich da in guter
       Gesellschaft.
       
       Die Erwartung, dass die Klimabewegung Corona für ihre Agenda nutzen
       würde? Nicht eingetreten, weder politisch noch was das Handeln der
       Einzelnen betrifft. Der kurzfristig stillgelegte Flughafen Tegel, ab
       November ohnehin Geschichte, wurde dann doch noch einmal aufgemacht, weil
       die Fluggastzahlen schneller nach oben gingen als im März oder April
       gedacht. Meine viel fliegende Nachbarin jettet mittlerweile zwar nicht mehr
       zu Meetings nach Köln, aber das Wochenende in Lissabon ist schon wieder
       gebucht.
       
       Der Ausbau der Radinfrastruktur? Ein paar „pandemieresiliente“ breitere
       Radstreifen vor allem in Friedrichshain-Kreuzberg. Doch die Verkehrswende
       in Berlin bleibt trotz Corona Stückwerk.
       
       Vermutlich werden wir einer möglichen zweiten Coronawelle ein Stück weit
       realistischer, vielleicht auch desillusionierter begegnen. Aber vielleicht
       ist das für die ganz pragmatische Arbeit an den bisher identifizierten
       Baustellen auch gar nicht verkehrt. Anders gesagt: Vielleicht wird es so ja
       doch noch etwas mit der Besserbezahlung der Pflegekräfte.
       
       22 Aug 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Klöpper
       
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