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       # taz.de -- Die langsame Genesung: Nach Covid-19
       
       > Im Fokus der Coronamaßnahmen bislang: Pandemie-Eindämmung und die
       > Behandlung schwer Erkrankter. Aber was ist mit den sogenannten Genesenen?
       
   IMG Bild: Corona-Teststation am Berliner Hauptbahnhof
       
       Täglich meldet die Gesundheitsverwaltung nicht nur die aktuellen
       Infektionsfälle, sondern auch die Zahl der Genesenen. Rund 9.500 davon gibt
       es demnach aktuell in Berlin. Aber was bedeutet das eigentlich: genesen?
       Nicht mehr infektiös, nicht mehr in Quarantäne, nicht mehr im Krankenhaus?
       Oder tatsächlich gesund?
       
       Ich frage mich das nicht nur aus journalistischer Neugier. Ein mir
       nahestehender Mensch hat sich in der zweiten Märzhälfte – zuvor kerngesund
       und ohne Vorerkrankungen – mit dem Coronavirus infiziert. Seitdem ist er
       krankgeschrieben. Statistisch aber gehört er zu den Genesenen. Oder besser:
       den sogenannten Genesenen.
       
       Die Statistik kennt – in Berlin und anderswo – nur drei Kategorien in
       Sachen Covid-19: aktiv erkrankt, genesen oder verstorben. Die Zahl der
       Genesenen wird von der Gesundheitsverwaltung mit einem Algorithmus
       berechnet, den auch das Robert Koch-Institut verwendet. Im Krankenhaus
       behandelte Covid-19-Patient*innen gelten 7 Tage nach Entlassung als
       genesen. Wer nicht im Krankenhaus war, gilt 14 Tage nach Erkrankungsbeginn
       als genesen.
       
       So auch mein im März infizierter Freund. Tatsächlich schrieb er bereits 10
       Tage nach Quarantänebeginn an Freunde: „Jetzt hab ich das Gröbste
       überstanden, es geht bergauf.“ Was für ein Irrtum. Eine unerklärliche
       Schlappheit blieb, Schmerzen in der Brust und in den Gliedmaßen, Schwindel,
       Missempfindungen. Eine Reise quer durchs Facharztregister folgte.
       
       In der Covid-19-Schwerpunktpraxis, die ihn betreute, stellte man fleißig
       die Überweisungen aus. Ansonsten Achselzucken. Verlängerte Rekonvaleszenz
       könne schon mal vorkommen nach einer Viruserkrankung. Vielleicht sei es ja
       auch was Psychosomatisches. „Schonen Sie sich noch“, sagt der Kardiologe,
       der am Herzen nichts feststellen kann. „Trauen Sie sich mal wieder was zu“,
       sagt der Neurologe, der an den Nerven nichts findet. Mein Freund versucht
       wieder arbeiten zu gehen und muss es nach einem Tag lassen. Er scheitert
       schon am Weg, den vier Treppen zu seinem Büro.
       
       Inzwischen häufen sich solche Fälle, Erfahrungsberichte gehen durch die
       Medien, Betroffene vernetzen sich in den sozialen Netzwerken. Studien aus
       Australien und den USA legen nahe, dass ein zweistelliger Prozentsatz der
       Erkrankten nach Wochen oder gar Monaten noch nicht wieder fit ist – auch
       nach milden Krankheitsverläufen.
       
       Es gebe im Wesentlichen drei Gruppen von Patient*innen, die
       Folgeerkrankungen nach Covid-19 entwickeln, sagt Carmen Scheibenbogen vom
       Institut für Medizinische Immunologie der Charité. Zum einen Menschen, die
       nach einer schweren Lungenentzündung mit Beatmung länger brauchen, um sich
       wieder zu erholen. Zum anderen Patient*innen, die sich nach der akuten
       Krankheitsphase mit anhaltenden Entzündungen plagen oder
       Autoimmunerkrankungen entwickeln.
       
       Und zum Dritten Menschen mit einer postviralen Fatigue – Scheibenbogens
       Fachgebiet, sie leitet das Charité Fatigue Centrum, berät Patient*innen
       und Ärzt*innen. Bereits nach Epidemien mit anderen Coronaviren seien
       gehäuft Fälle des postviralen chronischen Fatigue Syndroms aufgetreten. Und
       auch jetzt wendeten sich jeden Tag Covid-19-Patient*innen an das Fatigue
       Centrum, so Scheibenbogen.
       
       Die Symptome einer postviralen Fatigue sind vielfältig: übermäßige
       Erschöpfung oft schon nach geringen Belastungen, Schlafstörungen, Schmerzen
       im Bewegungsapparat, Atemnot, Konzentrationsstörung. Dauern die Beschwerden
       länger als sechs Monate ohne Besserung an, kann sich das wenig erforschte
       Chronische Fatigue Syndrom (CFS) entwickeln. Postvirale Fatigue und CFS
       seien auch bei vielen Ärzten kaum bekannt, sagt Scheibenbogen.
       
       „Wir benötigen bei Covid-19-Erkrankten eine Nachverfolgung über die
       nächsten 24 Monate und es gibt Hinweise, dass die ersten drei Jahre eine
       Schlüsselrolle bei einer möglichen Chronifizierung spielen“, mahnte schon
       Mitte Mai die Lost-Voices-Stiftung, die sich für CFS-Betroffene und mehr
       Forschung einsetzt.
       
       Verläufe erfassen, Daten sammeln und vernetzen, die Betroffenen
       entsprechend betreuen – passiert das in Berlin? In den knapp 30
       Covid-19-Schwerpunktpraxen vielleicht, die in ganz Berlin
       Covid-19-Erkrankte testen und behandeln? Oder bei den Hausärzten?
       Tatsächlich werde derzeit auf Initiative von Covid-19-Praxen an einem
       ambulanten Covid-Register für die Erfassung von Daten gearbeitet, heißt es
       dazu von der Kassenärztlichen Vereinigung. Auch bei den Krankenkassen habe
       man das Thema auf dem Schirm, heißt es von der AOK Nordost, einem der
       größten Berliner Versicherer.
       
       Wie viele Menschen sind nach einer Covid-19-Erkrankung mit welchen
       Diagnosen weiter krankgeschrieben? „So weit sind wir noch nicht“, sagt der
       AOK-Sprecher. Auch an der Charité soll es eine Forschungsgruppe geben, die
       sich mit Langzeitfolgen von Covid-19 befasst. Aber man sei noch ganz am
       Anfang, heißt es auch von dort. Bei den Gesundheitsämtern, die die
       Quarantäne akut Erkrankter begleiten, werden Langzeitverläufe bislang nicht
       erfasst, zur Eindämmung der Pandemie sind diese Daten nicht relevant.
       
       Mein erkrankter Freund konnte in dieser Woche 10 Minuten am Stück Fahrrad
       fahren, ohne danach völlig schlapp zu sein. Er hofft, dass Erschöpfung und
       Schmerzen nicht zu seinem neuen Normalzustand, nicht chronisch werden. Die
       Ärztin in der Covid-19-Schwerpunktpraxis schreibt ihn am Donnerstag für
       zwei weitere Wochen krank. Behandlungsempfehlungen hat sie keine.
       Statistisch gesehen ist er seit viereinhalb Monaten genesen. So genesen wie
       rund 9.500 andere Berliner*innen. Wie viele davon wirklich gesund sind –
       das weiß offenbar niemand.
       
       22 Aug 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manuela Heim
       
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