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       # taz.de -- Giulia Caminitos „Ein Tag wird kommen“: Brüder, die Hitze und der Krieg
       
       > Die Zeit, in der man lebt, und seine Familie kann man sich nicht
       > aussuchen. Caminitos Debüt ist eine fulminante Welt- und
       > Familiengeschichte.
       
   IMG Bild: Als die Traditionen hinweggefegt werden: Caminitos Debüt spielt in den italienischen Marken
       
       Ein Tag wird kommen und der Krieg wird vorbei sein. Die Halbpacht wird ein
       Ende gefunden haben, aber die Zypressen- und Olivenhaine, sie werden noch
       da sein. Ein Tag wird kommen, und die unzertrennlichen Brüder Nicola und
       Lupo, so ungleich, wie Brüder nur sein können, werden einander nicht
       wiederfinden.
       
       Einen solchen Tag, eine solche Zeit, die eine Familie auseinanderreißt, im
       Strudel des Weltgeschehens, das sie doch eigentlich nichts angeht,
       beschreibt Giulia Caminito in ihrem fulminanten Roman „Ein Tag wird
       kommen“, mit dem sie ihrem Großvater ein literarisches Denkmal setzt.
       
       Jahrhundertwende in den italienischen Marken. Nicola und Lupo sind zwei
       Söhne des Bäckers Luigi Ceresa. Mit seiner Frau Violante hat er viele
       Kinder bekommen, die meisten starben noch im Mutterleib, und die, die das
       Glück hatten (oder wie soll man es nennen?), geboren zu werden, wurden
       nicht alt. Alle, bis auf die Brüder und ihre älteste Schwester Nella,
       vergingen wie die Fliegen.
       
       Nicola, der Jüngste, wird vom Dorf verächtlich „Krumenbub“ genannt. Nicola
       kann kein Mehl schleppen, er zittert und weint, immerzu hat er Angst. In
       der Hitze des Tages verglüht er, sein Körper ist nicht gemacht für die
       Arbeit. Ganz im Gegensatz zu dem starken Jungen Lupo, mit unbändigem Willen
       versehen. Nicola ist ihm eine Last, er wäre ihn gerne los, „… alle anderen
       Kinder waren verschwunden, nur dieser Nicola wollte um jeden Preis
       bleiben“.
       
       ## Der Wolf in der Verkleidung des Zivilisierten
       
       Man kann sich seine Geschwister nicht aussuchen. Lupo ist getragen von
       einer unerklärlichen Wut auf alles. Besonders die Religion ist ihm
       verhasst, er ist der geborene Anarchist. Irgendwann findet er ein
       Wolfsjunges. Er nennt es Cane. Canis lupus familiaris, der Hund ist dem
       Menschen ein Mensch. Der Wolf in der Verkleidung des Zivilisierten, ein
       wenig erinnert das an Lupo selbst.
       
       Was ist das für eine Geschichte? Giulia Caminito erzählt die Geschichte
       Italiens im Umbruch. Feudale Strukturen werden von Sozialisten und
       Anarchisten infrage gestellt. Der Roman umspannt die Jahre von der
       Jahrhundertwende bis nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, der das
       Brüderpaar entzweien wird.
       
       Geschickt verwebt Caminito zahlreiche Erzählstränge: Da ist die Nonne Suor
       Clara, einst als sudanesisches Mädchen von arabischen Reitern entführt und
       verschleppt, später freigekauft, steigt sie im Kloster zur Äbtissin auf.
       Ausgerechnet eine schwarze Frau! Die Menschen verehren sie; allein Pfarrer
       Don Agostino ist sie ein Dorn im Auge.
       
       Er sah sich zu Großem bestimmt, predigt aber nun in einer Kirche, in der es
       gilt, die Hinterlassenschaften der Schafe auszukehren. Gemeint sind echte
       Schafe, nicht die Lämmer Gottes. Und schließlich tritt Nella in die
       Geschichte, die älteste Schwester der Brüder, die beide nie kennenlernen
       durften, weil sie als junge Frau ins Kloster geschickt wurde.
       
       ## Ein Roman von magischer Sprachenergie
       
       Immer enger verweben sich die Handlungsstränge, die nicht streng
       chronologisch erzählt werden, vielmehr vor- und zurückblenden, nur um
       schließlich an einem gemeinsamen Knotenpunkt anzugelangen. Dieser
       Knotenpunkt betrifft die Bruderschaft Lupos und Nicolas. Man ahnt bald, wer
       ihre wirklichen Eltern sind.
       
       Die Welt, in der Lupo, Nicola, Suor Clara und Nella leben, wirkt so fremd
       wie aus dem unsrigen Kosmos gefallen, dass man fasziniert der Geschichte
       folgt. Und dann ist da diese Sprache! Die gerade einmal 32-jährige Autorin
       Giulia Caminito strahlt eine literarische Reife aus, besitzt eine
       sprachliche Kraft, die beeindruckt.
       
       Es ist ein Roman von geradezu magischer Sprachenergie, wie ein Sermon,
       vorgetragen in Sätzen, die ganze Absätze umspannen, und doch nie
       altmeisterlich erzählen. Glänzend ist die Übersetzung aus dem Italienischen
       von Barbara Kleiner.
       
       Giulia Caminito ist die Enkelin Nicola Ugolinos, des Krumenbubs, dem
       niemand das Leben zutraute, bis er in den Krieg zog. Die Geschichte, die
       eine überraschende Wendung nimmt, ist eine Verbindung von Familien- und
       Zeitgeschichte. Sie erzählt von einer Welt, in der tradierte Werte von den
       Zeitläufen hinweggefegt werden. Der Faschismus tritt an ihre Stelle.
       
       24 Aug 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marlen Hobrack
       
       ## TAGS
       
   DIR Roman
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