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       # taz.de -- Bildschirmzeiten in Coronazeiten: Das Handy bleibt im Lockdownmodus
       
       > Die Welt außen beschleunigt sich wieder, doch der Blick verharrt auf dem
       > Handydisplay. Wie ging das noch gleich, sich im Alltag orientieren ohne
       > App?
       
   IMG Bild: Der ständige Blick aufs Smartphone ist nicht nur bei Kindern und Jugendlichen ein Problem
       
       Draußen regnet es. Ich entsperre mein iPhone heute schon zum 41. Mal, dabei
       ist es erst früher Nachmittag. Aus der Wetterapp heraus strahlt mich eine
       kleine Sonne an, ich schaue vom Bildschirm aus meinem Fenster und zurück
       zum Bildschirm. Ich muss kurz überlegen, wem ich heute mehr traue: Realität
       oder App.
       
       Im Frühjahr konnte man neue Hobbys züchten, an denen man auch im Sommer
       noch Spaß haben kann. Zum Beispiel haben einige meiner Freunde das Joggen
       für sich entdeckt oder das Puzzlen.
       
       Ich habe mich mit TikTok auseinandergesetzt. Zu sehr wurde mein Algorithmus
       auf faszinierende 15-seconds-Recipes zugeschnitten. Da findet sich alles
       von Avocado-und-Poached-Egg-Toast in Herzform über vegane Fettucine Alfredo
       bis hin zu Tutorials, wie man aus einem Brötchen Pizza machen kann.
       
       Diesen und anderen sozialen Medien gebe ich die Schuld daran, dass sich
       meine Bildschirmzeit um 500 Prozent gesteigert hat, obwohl ein Video nur
       eine Viertelminute lang ist. So übrigens auch bei amerikanischen Teenagern,
       das besagt jedenfalls eine Umfrage der Seite ParentsTogether – und es ist
       kein Ende in Sicht. Screentime als Corona-Alltag ist in vielen Haushalten
       eingekehrt: Auch in den deutschen Medien wird momentan dieser gefährlich
       hohe Anstieg von Bildschirmzeit bei Kindern und Jugendlichen angeprangert.
       ParentsTogether zum Beispiel will deswegen den Kongress und Big-Tech dazu
       anhalten, mehr zu tun, als die Bildschirmzeit über Prüfnummern steuern zu
       können, um die Sicherheit ihrer Kinder zu gewährleisten.
       
       Leben in zwei Zeitzonen 
       
       Durchforste ich Meldungen zu dieser Bildschirmabhängigkeit, scheinen meist
       nur Kinder und Jugendliche von einer Sucht betroffen. Wenn ich aber auf
       meine Bildschirmzeit schaue, dann komme ich mir auch heute noch vor wie im
       März. Der Automatismus, mich nicht nur in der Welt umzusehen, sondern mich
       doppelt durch einen Blick auf eine App im Alltag zu orientieren, ist bei
       mir voll angekommen. Das fängt beim Wetter an und hört bei Gesprächen mit
       Freunden auf. Mittlerweile denkt man ja, zumindest die absolute Krisenzeit
       während des Lockdown läge in der Vergangenheit. „Ich habe jetzt auch die
       schlimmste Netflix-Phase 2020 hinter mir!“, erzählen mir viele meiner
       Freunde.
       
       Ich treffe sie im Außenbereich eines Cafés, wo sie eben genau mit dieser
       neuen Serienabstinenz prahlen, während ich mein Telefon zum 42. Mal
       entsperre. Vier weitere Gespräche führe ich über den WhatsApp-Gruppenchat,
       während ich im Café sitze.
       
       Der Körper ist in der Realität angekommen, aber der Kopf nicht: Mein Handy
       bleibt im Lockdownmodus. Mittlerweile ist eine Form von Alltag zumindest in
       großen Teilen Europas in vielen Lebenslagen eingekehrt, der aber auch bei
       Erwachsenen nun zwischen Leben, Latte und Youtube stattfindet. Die Welt
       außen beschleunigt sich langsam, zaghaft macht man erste Schritte auf
       andere Menschen zu, das iPhone in der Hand bleibt trotzdem ready to unlock.
       Mein Bildschirm hat Anteil an der Realität gewonnen, als er zeitweise zu
       ihr wurde. Und jetzt bleibt ein Rest der Internet-Realität zurück.
       
       Es ist, als würde man in zwei Zeitzonen leben. In der einen ist es grau und
       in der Ferne höre ich es donnern, in der anderen bleibt es heute meistens
       sonnig. Ich entsperre mein iPhone und sehe, dass ich es heute 152-mal
       entsperrt habe.
       
       Ein trauriger Blick auf mein Eiertoast verrät: Es ist am Boden verbrannt.
       Von meinem iPhone gesendet.
       
       28 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marlene A. Schenk
       
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