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       # taz.de -- Bertelsmann-Studie zu Corona und Armut: 2,8 Millionen arme Kinder
       
       > Miese Lernbedingungen, wenig Freizeitmöglichkeiten, schlechte
       > medizinische Versorgung: Eine Studie zeigt die Folgen von Kinderarmut.
       
   IMG Bild: Immerhin schaukeln ist (meistens) umsonst
       
       Berlin taz | Die Zahl armer Kinder in Deutschland nimmt einfach nicht ab:
       Mehr als jede und jeder fünfte Minderjährige lebt in Armut, betroffen sind
       also rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche. Die Zahlen gehen aus einer
       aktuellen Erhebung der Bertelsmann-Stiftung hervor, die dafür zwei
       Armutsdefinitionen kombiniert hat: Die ForscherInnen zählten sowohl die
       Kinder aus Haushalten, die Hartz IV beziehen, als auch aus solchen, die
       weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte zur
       Verfügung haben. Beide Werte sind seit 2009 ungefähr konstant geblieben –
       und das, obwohl die Wirtschaftskraft im Land bis zur [1][Coronakrise] Jahr
       für Jahr gestiegen war.
       
       Vermutlich wird die Kinderarmut [2][durch die Folgen der Pandemie jetzt
       sogar noch zunehmen]. „Die wirtschaftlichen Folgen der Krise und die
       steigende Arbeitslosigkeit treffen arme Familien oder Familien im unteren
       Einkommensbereich besonders“, schreiben die AutorInnen. Betroffene Eltern
       hätten oft befristete Arbeitsverträge, seien in Teilzeit oder in Leiharbeit
       – Jobs also, die in der Krise als Erstes gestrichen werden. Auf Rücklagen
       könnten sie meist nicht zurückgreifen, Hilfsangebote wie die Tafeln und
       Freizeiteinrichtungen (siehe Interview) seien wegen der Pandemie höchstens
       eingeschränkt verfügbar.
       
       Gerade im Bildungsbereich könnte die Ungleichheit wegen der Pandemie
       ansteigen. Oft haben arme Kinder in ihrer Wohnung keine Rückzugsorte, an
       denen sie in Ruhe lernen können. Rund 47 Prozent der von Armut betroffenen
       Familien leben der Studie zufolge in einer Wohnung ohne ausreichend viele
       Zimmer – im Vergleich zu rund 10 Prozent der Familien mit gesichertem
       Einkommen. Knapp ein Viertel der armen Familien hat keinen Computer mit
       Internetzugang – unter den übrigen Familien gilt das nur für rund 2
       Prozent. „Für das Homeschooling sind das keine guten Bedingungen“,
       schreiben die ForscherInnen.
       
       ## Kein Urlaub für arme Kinder
       
       Immerhin: Viele elementare Grundbedürfnisse werden der Bertelsmann-Studie
       zufolge in Deutschland auch Kindern aus armen Familien erfüllt. Eine
       Wohnung mit Badezimmer, eine Waschmaschine und eine warme Mahlzeit am Tag
       fehlen kaum jemandem. Neben der Homeschooling-Situation gibt es aber auch
       viele andere Bereiche, in denen arme Kinder verzichten müssen: Sie kommen
       selten aus dem eigenen Umfeld heraus, müssen zum Beispiel auf Urlaube
       verzichten. Sie nehmen verhältnismäßig selten am kulturellen Leben teil,
       gehen also selten ins Kino, ins Theater oder zu Konzerten. Und auch auf
       medizinische Behandlungen müssen sie häufig verzichten – zumindest bei
       Leistungen, die nicht von den Krankenkassen bezahlt werden.
       
       Der Verzicht hat allerdings nicht immer mit der Geldnot zu tun, sondern
       kann auch andere Gründe haben. So ist beispielsweise denkbar, dass manche
       Eltern selbst wenig Bezug zu Kulturveranstaltungen haben und schon deswegen
       ihre Kinder nicht mit ins Theater nehmen.
       
       Aufgrund der Studienergebnisse fordert die Bertelsmann-Stiftung, dass „die
       Politik endlich aktiv werden“ müsse. Vor allem fordert die unternehmernahe
       Stiftung eine Kindergrundsicherung, die über das Existenzminimum hinaus
       eine „normale oder durchschnittliche Kindheit ermögliche“. Linkspartei-Chef
       Bernd Riexinger schloss sich dieser Forderung am Mittwoch an, verwies aber
       darüber hinaus auf tieferliegende Ursachen. Verantwortlich für Kinderarmut
       seien diejenigen, „die dafür sorgen, dass die Eltern der Kinder in
       unsicheren, schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen stecken“.
       Arbeitnehmerrechte müssten daher gestärkt und der Mindestlohn angehoben
       werden.
       
       Die Bundesregierung wies dagegen den Vorwurf zurück, dass sie zu wenig
       gegen Kinderarmut unternehme. Eine Sprecherin des Familienministeriums
       verwies unter anderem auf den Kinderzuschlag für GeringverdienerInnen, der
       im vergangenen Jahr um 15 Euro erhöht wurde. Diese und andere aktuelle
       Maßnahmen flossen in die Bertelsmann-Erhebung noch nicht ein: Bei der
       Errechnung der Armutsquote stützten sich die ForscherInnen auf Zahlen aus
       dem Jahr 2018. Auch der vermutete Anstieg durch die Coronafolgen ist daher
       durch die Erhebung noch nicht belegt.
       
       22 Jul 2020
       
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