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       # taz.de -- Streit um Schutzgebietsverordnung: Erholung auch für Vögel
       
       > Für das Steinhuder Meer soll es eine neue Schutzgebietsverordnung geben.
       > Eine Bürgerinitiative befürchtet, dass damit Touristen vertrieben werden.
       
   IMG Bild: Immer im Konflikt zwischen Badespaß und Vogelschutzgebiet: das Steinhuder Meer
       
       Göttingen taz | Erst in der vorletzten Woche haben Nabu-Mitglieder am
       Steinhuder Meer wieder Sumpfschildkröten ausgewildert, 54 waren es. Seit
       2014 wurden dort bereits 350 dieser Tiere ausgesetzt. Die Europäische
       Sumpfschildkröte ist die einzige in Niedersachsen noch heimische Art, der
       Bestand ist aber stark bedroht. Der Naturschutzbund Nabu hofft, dass sich
       die Schildkröten im Wasser und am Ufer des Steinhuder Meeres kräftig
       vermehren und ohne menschliche Hilfe für Nachwuchs sorgen.
       
       Das Steinhuder Meer, nordwestlich von Hannover gelegen und mit einer Fläche
       von knapp 30 Quadratkilometern der größte See in Nordwestdeutschland (siehe
       Kasten), ist ökologisch einigermaßen intakt und nicht nur für Schildkröten
       ein Refugium. Das Gewässer selbst ist seit 1981 ein Landschaftsschutzgebiet
       und hat als Feuchtgebiet internationale Bedeutung, insbesondere für
       verschiedene Wasservögel. Die Uferbereiche sind wichtiger Lebensraum für
       Brutvögel. Vier Bereiche in der direkten Umgebung sind als
       Naturschutzgebiete ausgewiesen, sie haben somit einen strengeren
       Schutzstatus.
       
       Das Steinhuder Meer ist aber auch ein Naherholungsgebiet und hat für viele
       Menschen einen hohen Freizeitwert. Der Fremdenverkehr, insbesondere der
       Tages- und Wochenendtourismus, ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
       Jährlich kommen rund zwei Millionen Gäste, um Rad zu fahren, spazieren zu
       gehen, zu segeln oder anderen Wassersport zu betreiben. Am Sandstrand der
       Insel Steinhude sowie am Nordufer ist Baden im See möglich. Es gibt in
       Wassernähe viele gastronomische Betriebe, mehrere Campingplätze und einen
       Wohnmobilstellplatz.
       
       In der Vergangenheit kamen Naturschutz und Tourismus einigermaßen
       miteinander aus, teilweise ergänzten sie sich sogar. Die Ökologische
       Schutzstation Steinhuder Meer bietet Führungen und Naturbeobachtungen an.
       Im Stationsgebäude in Winzlar am Westufer des Sees können Besucher über
       Webcams das Brutgeschehen in Vogelnestern verfolgen. Und in der
       Schmetterlingsfarm in Steinhude, die rund 400 tropische Schmetterlinge
       beherbergt, lässt sich die spektakuläre Metamorphose – Ei, Raupe, Puppe
       Falter – live miterleben.
       
       Doch mit dem gedeihlichen Nebeneinander ist es vorbei, seit die Region
       Hannover vor wenigen Wochen verkündete, die Regeln im
       Landschaftsschutzgebiet „Seefläche Steinhuder Meer“ anzupassen. Die
       bestehende, fast 40 Jahre alte Verordnung genüge den EU-Anforderungen nicht
       mehr, sagte die Umweltdezernentin der Region, Christine Karasch.
       
       Tatsächlich, so die Region, ändere sich durch die neue
       Schutzgebietsverordnung aber kaum etwas. Wie bislang würden alle Handlungen
       untersagt werden, die Flora und Fauna sowie die ruhige Erholung stören
       könnten: etwa Lärm, freilaufende Hunde oder offenes Feuer. Die Nutzung des
       Sees für Wassersport bleibe ebenso weiter möglich wie die Nutzung der
       Strände, der Badeinsel, der Holzstege und der Aussichtspunkte. Wildes
       Zelten in der Natur sei nach wie vor nicht erlaubt.
       
       Wirklich neu in der Verordnung ist demnach nur die Einrichtung einer
       Sperrzone westlich der künstlichen Insel Wilhelmstein von Mitte September
       bis März. So soll ein Rückzugsraum für Vögel geschützt werden, eine
       Umsegelung der Insel werde aber weiter möglich sein. Die neue Verordnung
       enthalte sogar Erleichterungen: Musste für die Veranstaltung „Steinhuder
       Meer in Flammen“ bisher eine „Befreiung“ durch die Naturschutzbehörde
       erteilt werden, ist dafür künftig nur noch eine Erlaubnis nötig.
       
       Kaum Änderungen? Das sieht die „Notgemeinschaft (NG) Steinhuder Meer“, ein
       Zusammenschluss von Seglern, Fischern, Gastronomen und Touristikern ganz
       anders. Politik und Öffentlichkeit würden mit Nachrichten dieser Art
       bewusst getäuscht, sagte der NG-Vorsitzende Johannes Franke der taz: „Die
       Schrauben werden richtig angezogen.“
       
       Das Steinhuder Meer solle unter dem Deckmantel „Landschaftsschutzgebiet“
       wie ein Naturschutzgebiet behandelt werden, „die seit Langem praktizierte
       schrittweise Vertreibung des Menschen aus der Natur geht weiter“, heißt es
       von der Notgemeinschaft. Die vorgesehenen Verbote und Erlaubnisvorbehalte
       seien „unverhältnismäßig und inflationär“. Der mühsam erreichte Burgfriede
       zwischen den Bürgern rund um das Steinhuder Meer und der Region Hannover
       sei „mehr als gefährdet“.
       
       Um ihre Vorwürfe zu untermauern, hat die Notgemeinschaft die alte und neue
       Verordnung einem peniblen Vergleich unterzogen – und in der neuen
       zusätzliche Verbote entdeckt. So dürfen etwa Hunde explizit nicht mehr
       unangeleint oder an mehr als zwei Meter langen Leinen durch die Gegend
       laufen oder „bauliche Anlagen aller Art“ errichtet oder verändert werden.
       Bei letzterem Verbot sieht die Notgemeinschaft die Gefahr, dass
       Fahnenmasten der Segelvereine oder Krananlagen nicht erneuert werden
       können. Auch das Verbot, Drachen steigen zu lassen, will der
       Notgemeinschaft nicht einleuchten: „Warum Drachenverbot, wenn Kitesurfen
       erlaubt bleiben soll?“
       
       „Die einseitige Klientelpolitik der Verwaltung zugunsten von ‚Öko-NGOs‘ ist
       offensichtlich“, lautet das Fazit der Notgemeinschaft. Während die
       Vereinigung nun eine Klage gegen die Verordnung ins Auge fasst, hat die
       Region die Entwürfe zwecks Öffentlichkeitsbeteiligung inzwischen in
       mehreren Verwaltungsstellen ausgelegt. Grundsätzliche Zustimmung, wenn auch
       mit einigen Änderungswünschen, hat inzwischen die Stadt Wunstorf bekundet.
       Bis Mitte Oktober soll das Verfahren abgeschlossen und die Ausweisung von
       der Regionsversammlung beschlossen sein.
       
       24 Aug 2020
       
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