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       # taz.de -- Gewaltdarstellung im Journalismus: Die Grenzen des Sehbaren
       
       > Explizite Videos haben Debatten über Polizeigewalt und Gewalt gegen
       > Schwarze Menschen ausgelöst. Doch was ist mit der Würde der Opfer?
       
   IMG Bild: Bilder werden gemacht – hier von den Protesten gegen Polizeigewalt in Kenosha, 25. August
       
       Erst gab es das Video von Ahmaud Arbery, in dem er von zwei Männern in
       ihrem Auto gejagt und schließlich erschossen wird. Dann kamen die Bilder
       von George Floyd, von dessen Festnahme und den Minuten seines Todeskampfes,
       in denen er noch „I can’t breathe“ und „Mama“ stöhnt, während ein Polizist
       auf seinem Nacken kniet und andere ihn fixieren. Und seit einigen Tagen
       sieht man in den sozialen Medien nun die Aufnahme von Jacob Blake aus
       Kenosha, wie ihm, sich im Schritttempo wegbewegend, sieben Mal von
       Polizisten aus nächster Nähe in den Rücken geschossen wird.
       
       Das alles sind Fälle aus den USA, und das Rassismusproblem der US-Polizei
       ist kein neues, zuvor gab es schon Videos von den Festnahmen oder dem Tod
       von Eric Garner, Tamir Rice, Sandra Bland, Philando Castile – und Dutzende
       mehr. In Deutschland tauchen derzeit ebenfalls Aufnahmen von Polizeigewalt
       auf, [1][zuletzt das Video eines 15-Jährigen, der in Düsseldorf von
       Polizist:innen zu Boden gedrückt wird,] einer kniet auf seinem Nacken,
       ähnlich wie es bei Floyd getan wurde. Auch hier kein ganz neues Phänomen.
       
       Diese Videos sind im Netz zu finden, man muss sie nicht suchen, denn sie
       werden häufig und fast beiläufig verbreitet. Sie finden einen, weil
       Freunde, Familie und Leute, denen man auf Twitter folgt, sie teilen.
       Nachrichtenseiten binden sie in ihre Berichte ein. [2][Manchmal steht eine
       Content Note vor einem Video] – eine Warnung vor dem, was man gleich sehen
       wird. Oft aber fehlt diese Warnung; und wer in seinem Account das
       automatische Abspielen von Videos aktiviert hat, sieht vieles ohne aktives
       Zutun.
       
       Es sind Bilder, die gleichermaßen wichtig und verstörend sind. Bilder, die
       kaum zu ertragen sind, die aufwühlen und zu Tränen rühren sollten. Und die
       im Nachgang stets auch Fragen aufwerfen, die über die grundsätzliche Frage,
       warum eine Tat überhaupt geschehen ist und kann, hinausgehen.
       
       ## Mit eigenen Augen
       
       Denn während es einerseits beeindruckend ist, welche politische Kraft
       solche Aufnahmen entfalten können, ist es doch auch angebracht zu
       thematisieren, welchen Schaden sie unter Umständen anrichten und ob es
       vertretbar ist, diese Videos zu verbreiten – als Privatperson, aber auch
       als Nachrichtenmedium. Eine eindeutige Antwort darauf wird es nicht geben,
       aber es gibt Abwägungen, die man vornehmen kann und sollte.
       
       Für Privatpersonen haben diese Videos den großen Vorteil, dass sie eine
       niedrigschwellige Möglichkeit bieten, anhaltende Missstände aufzuzeigen und
       Ereignisse zu belegen. Man ist in der Lage, Dinge mit eigenen Augen zu
       sehen. Niemand wird heute noch in Frage stellen, ob ein Polizist auf George
       Floyds Nacken kniete, während ein Passant ihn darauf hinwies, dass er ihn
       gerade umbringt.
       
       Die Reichweite, die diese Aufnahmen zudem in sozialen Medien bekommen
       können, ist enorm, zuletzt gut erkennbar durch die von Floyds Tod
       ausgelösten, weltweiten „Black Lives Matter“-Proteste. Diese Aufnahmen sind
       ein Weg, um die Politik zum Handeln zu zwingen, um Konsequenzen
       einzufordern, die in anderen Fällen ohne bildliche Aufnahmen unter
       Umständen viel schwerer zu erreichen sind.
       
       Andererseits zeigen Videos immer nur einen Ausschnitt der Realität. Und ein
       Teil der Diskussion verschiebt sich stets auf die Frage, was nicht zu sehen
       war, was davor und danach passiert. Das kann man ohne weitere Aufnahmen
       nicht wissen. Und dann stellen sich weitere Fragen: Was muss im Vorfeld
       passiert sein, um eine Tat zu rechtfertigen? Brauchen wir noch mehr dieser
       Videos? Wer braucht sie? Bei welchen Ereignissen wollen wir wissen, was
       vorher geschehen ist und bei welchen nicht? Wie viele Kameraperspektiven
       werden verlangt, um zu glauben, was man sieht?
       
       ## Was ist mit sexualisierter Gewalt?
       
       Während diese Videos an sich wertvoll sein können, als Beleg dafür, dass
       etwas passiert ist, stellt sich bei ihrer Verbreitung die Frage, ob diese
       nicht noch mehr Schaden anrichtet. Denn diese Bilder sind für viele
       Menschen traumatisierend. Für Schwarze Menschen und People of Color (BPoC)
       ist es psychisch belastend, überall Videos davon zu sehen, wie Personen,
       die ihre Mutter, ihre Geschwister, ihre Kinder oder sie selbst sein
       könnten, brutal gejagt und ermordet werden. Das kann psychische Beschwerden
       hervorrufen oder verstärken. Man würde Frauen auch nicht zumuten wollen,
       sich in sozialen Medien explizite Aufnahmen sexualisierter Gewalt
       anzusehen. Wieso mutet man es BpoC zu?
       
       Insgesamt kann es für eine Gesellschaft nur ungesund sein, derart grausame
       Bilder im derzeitigen Umfang zu konsumieren. Und gleichzeitig stellt sich
       die Frage nach der Notwendigkeit: Ist tatsächlich ein derart brutales Video
       nötig, damit Menschen anfangen, sich für diese Vorgänge zu interessieren?
       Und entwickelt sich daraus eine Art Teufelskreis: Man glaubt Brutalität nur
       noch, wenn man sie auf Videos gesehen hat?
       
       Wer so ein Video teilt, will meist schlicht sagen: „Sieh her, was hier
       Schlimmes passiert“ – und das ist im Grunde durchaus nachzuvollziehen. Aber
       jeder Einzelne sollte sich fragen, ob das der richtige und einzige Weg ist,
       um die nötige Aufmerksamkeit zu erreichen. Ob es nicht andere Möglichkeiten
       gibt – Initiativen, die man teilen kann, Berichte ohne bebilderte
       Gewaltdarstellung, Spendenaufrufe, politische Forderungen, die man an
       zuständige Stellen richten kann. Jeder sollte sich fragen, ob wir noch mehr
       von diesen Videos brauchen und natürlich, ob man sie auch teilen würde,
       wenn darauf eine weiße Person gequält und ermordet werden würde.
       
       ## Die Würde des Opfers
       
       Aus journalistischer Sicht sind darüber hinaus bei der Frage, ob Bilder
       oder Videos von Gewalt weiter verbreitet werden sollen, auch mehrere
       medienethische Überlegungen relevant. Einerseits hat Journalismus einen
       dokumentarischen Anspruch: Er soll zeigen, was geschieht, damit die
       Öffentlichkeit sich ein Bild darüber machen kann. In diesem Sinne wäre es
       auch wichtig, Bilder und Bewegtbilder von Gewalt gegen Menschen zu zeigen.
       Dennoch landen derlei Bilder so gut wie nie ungefiltert in journalistischen
       Medien. Denn es gibt noch weitere medienethisch relevante Prinzipien.
       
       Zum einen ist da der Schutz des Opfers. Jemanden in einer Situation von
       Hilflosigkeit oder sogar im Moment des Ablebens zu zeigen, verletzt die
       Würde dieses Menschen. Der dokumentarische Wert eines solchen Videos oder
       Bildes ist zwar hoch anzusetzen – da er zum Beispiel als Beweis eines
       Missstandes dienen kann und das Verbreiten dafür sorgen könnte, dass die
       gesamte Öffentlichkeit diesen Missstand mitbekommt. Allerdings wird bei
       dieser Argumentation die Menschenwürde des Opfers zum Nutzen eines „höheren
       Guts“ funktionalisiert, was ethisch nicht vertretbar ist.
       
       Das Herausfiltern von expliziter Gewalt in journalistischen
       Darstellungsformen schützt das Publikum. Zwar stellt Journalismus in der
       Regel ohnehin eher die negativen, niederschmetternden und katastrophalen
       Seiten der Realität dar, allerdings in der Regel nicht unmittelbar, sondern
       moderiert. Durch Umschreibung, Einfassung in Formate und gegebenenfalls
       angekündigt, so dass sich das Publikum auf das einstellen kann, was kommt.
       
       ## Menschen in Newsrooms
       
       Eine ungefilterte Wiedergabe von gewaltvollen Bildern am Anfang eines
       TV-Beitrags oder als Webvideo, das sich von alleine abspielt, wäre
       übergriffig gegenüber den Zuschauenden. Im Fall des Handyvideos aus
       Kenosha, das zeigt, wie Einsatzkräfte mehrere Schüsse auf den unbewaffneten
       Jacob Blake abfeuern, haben sich einige Medien für einen Zwischenweg
       entschieden: Sie spielten das Video bis kurz vor dem Moment der Schüsse ab,
       hielten dann das Bild an und ließen nur das Audio weiterlaufen. Auf diese
       Weise wurde die Situation, nämlich dass Blake unbewaffnet und nicht
       aggressiv war, klar, der Moment der Schüsse wurde allerdings nicht zulasten
       des Opfers bildlich dargestellt, sondern in beschreibenden Worten
       zusammengefasst.
       
       Um Entscheidungen treffen zu können, welche Bilder ans Publikum
       weitergereicht werden, müssen Journalist*innen das Bildmaterial zuerst
       vollständig sichten. Für Menschen, die in Newsrooms arbeiten, ergibt sich
       daraus die Situation, dass sie sehr oft mit verstörendem Bildmaterial
       konfrontiert sind. Über die Frage, wie viel solchen Materials einzelnen
       Journalist*innen als Teil ihres Jobs zugemutet werden kann und sollte,
       wird bisher leider zu wenig debattiert. Auch wenn das Konsumieren von
       Gewaltvideos im journalistischen Arbeitsalltag unvermeidbar ist, sollte
       also beachtet werden, dass auch die Nachrichtenredakteur*innen zu
       schützen sind.
       
       27 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Vorfall-bei-Polizeieinsatz-in-Duesseldorf/!5707538
   DIR [2] https://www.lexico.com/en/definition/content_note
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Saskia Hödl
   DIR Peter Weissenburger
       
       ## TAGS
       
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