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       # taz.de -- Neues Album von 100 Kilo Herz: Doch wenn es brennt
       
       > Als Brass Punk bezeichnen 100 Kilo Herz ihre Musik. Auf ihrem neuen Album
       > „Stadt Land Flucht“ haben sie ihr Themenspektrum noch einmal erweitert.
       
   IMG Bild: Mehr als Schall und Rauch: die Band 100 Kilo Herz
       
       „Der Alltag kratzt und schlägt und beißt / Doch das hier fühlt sich an wie
       Lebendigkeit“: Rodi, Sänger der Leipziger Punkband 100 Kilo Herz,
       beschreibt damit ein Gefühl, das sich auf Konzerten breitmacht. Corona
       verhindert viele Konzerte, und diese Musik steigert die Sehnsucht danach.
       Der Song heißt „Nur für eine Nacht“ und gehört zum heute veröffentlichten
       Album „Stadt Land Flucht“. Es ist das zweite Werk der Leipziger, die ihren
       Musikstil als „Brass Punk“ bezeichnen.
       
       Neben Rodi, der bei 100 Kilo Herz Bass spielt und singt, gehören zur Band
       Claas (Saxofon), Clemens (Gitarre), Falk (Schlagzeug), Flecki (Trompete),
       Marco (Gitarre). Gegründet haben sie sich 2015 mit der Idee, Punk mit
       Bläsern zu fusionieren. Ihren Namen gab sich 100 Kilo Herz in Anlehnung an
       die [1][Münsteraner Band Muff Potter] und deren Song „100 Kilo“.
       
       Brass Punk als stilistische Einordnung rührt daher, dass 100 Kilo Herz oft
       dem Ska-Genre mit seinen tanzbaren Off-Beats zugeordnet wurden, was die
       Band selbst als unzutreffend empfand. Zur Mischung aus Punkrock und
       eingängigen Melodien von Trompete und Saxofon kommen auf „Stadt Land
       Flucht“ ernste bis dystopische Texte.
       
       Im Gegensatz zum Debütalbum „Weit weg von zu Hause“ erweitern 100 Kilo Herz
       ihre Textthemen, nun gibt es mehr als nur politische Kommentare. So setzt
       sich die Band in „Tresenfrist“ mit übermäßigem Alkoholkonsum auseinander,
       der in der Punkszene oftmals auf hohle Weise glorifiziert wird: „Und
       irgendwas in dir hört niemals auf zu schrei’n / Und kann es nicht ertragen
       / Mit sich allein zu sein“.
       
       Ein mutiges, antimachistisches Statement, Sänger Rodi schildert in dem
       [2][Podcast] „Uncle M Kaffeekränzchen“, woher die Inspiration für den Text
       kommt: „Ich kenne einen trockenen Alkoholiker, der sich seine Flaschen
       umetikettiert, damit nicht auffällt, dass er alkoholfreies Bier trinkt.“
       Auch in dem Song „… und aus den Boxen …But Alive“ geht es um Alkohol- und
       Drogenkonsum in Bars und auf Partys, Puritaner sind 100 Kilo Herz
       offensichtlich keine: „Deinen Namen kenn ich nicht / Doch deine Nähe nehm
       ich an / Weil der Abend so vielleicht noch besser werden kann“.
       
       Dystopische Dimensionen 
       
       An anderer Stelle thematisiert die Band – dem Albumtitel folgend –
       Fluchtgedanken. Den Wegzug aus der Provinz in die Großstadt haben die
       Bandmitglieder schon hinter sich: Alle sind auf dem Land groß geworden. Bei
       100 Kilo Herz bekommt das Thema Flucht weitere, auch dystopische
       Dimensionen und dann wird es spannend.
       
       In „Wenn es brennt“ wird ein totalitärer Staat in allen Auswirkungen
       beschrieben: „Bevor dieses Land ein Schlachtfeld ist / Sind wir hoffentlich
       in Den Haag“; „Du weißt, ich wollte nie kämpfen / Doch wenn es brennt,
       passen wir auf uns auf“. Bei „Sowas wie ein Testament“ stellt sich der
       Vortragende wiederum Szenarien von Beerdigungen vor. Die Tristesse wird von
       der Musik kontrastiert. Der Sound von 100 Kilo Herz ist dermaßen melodiös,
       dass man sofort mitsingen will.
       
       „Drei Jahre ausgebrannt“, „Drei vor fünf vor zwölf“ und „Scheren fressen“
       schlagen textlich eher in die politische Kerbe. Speziell „Drei Jahre
       ausgebrannt“, zum Auftakt, gleichzeitig auch die erste Single-Auskopplung,
       beschreibt zu locker-flockigen Bläserarrangements Alltagsrassismus und
       Sexismus: „Der Griff an die Hüfte war doch nur ein Kompliment“, und in
       „Drei vor fünf vor zwölf“ geht es – ebenfalls mit fröhlicher
       Trompetenuntermalung um den gegenwärtigen Zustand Deutschlands: „Nach fast
       einhundert Jahren haben wir Applaus verdient / Wir haben die Nazis
       abgeschafft und den Fremdenhass besiegt / Kein linkes Viertel ist
       Gefahrengebiet und kein Neonazi, der im Landtag Geld verdient“. „Scheren
       fressen“ beschäftigt sich mit den rechtsradikalen Terroristen des NSU und
       dem kollektiven Geschichtsvergessen. Die Drums bollern so los, dass man am
       liebsten direkt in die Luft springen möchte.
       
       Zurück zu „Nur für eine Nacht“: Die Band hat neben zwei
       Open-Air-Record-Release-Shows heute und morgen in Leipzig eine Tour im
       Herbst angekündigt. Ob es dazu kommt, ist Stand jetzt eher fraglich. Auch
       Zuschauende vermissen Konzertatmosphäre und die von 100 Kilo Herz
       beschriebene Lebendigkeit mittlerweile schmerzlich. Das neue Album der Band
       lindert dies wenigstens ein bisschen.
       
       8 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Autor-Thorsten-Nagelschmidt-im-Interview/!5681385
   DIR [2] https://unclemkaffeekraenzchen.podigee.io/8-rodi
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Annika Glunz
       
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