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       # taz.de -- Präsidentschaftswahl in Belarus: Bobruisk hat keine Angst mehr
       
       > Auch in der Provinz machen die Menschen ihrem Unmut gegen Staatschef
       > Lukaschenko Luft – und unterstützen offen seine Gegenkandidatin.
       
   IMG Bild: Ihre Anhänger*innen feiern die Präsidentschaftskandidatin Svetlana Tikhanouskaya auf einer Kundgebung in Bobruisk am 25.Juli
       
       BOBRUISK taz | Auf einem kleinen Platz vor der Banja, direkt neben dem
       Markt, stehen sie, ein Dutzend alte Frauen mit gebeugten Rücken. Jeden Tag
       kommen sie in das Zentrum der belarussischen Provinzstadt Bobruisk, um sich
       mit dem Verkauf selbst gesammelter Beeren ihre schmale Rente aufzubessern.
       
       Seit Kurzem ist dieses Örtchen mit 220.000 Einwohnern zu einem kleinen Hyde
       Park geworden. Hier treffen die Babuschkas mit Oppositionelle zusammen, die
       im kleinen Kreis mit den Menschen sprechen. Und die Babuschkas diskutieren
       mit, wenn es um Politik geht. „Seht zu, dass die Kakerlake endlich
       verschwindet“, ruft eine ältere Dame mit einem kleinen Korb in der Hand
       einem jungen Mann zu, der in ein Gespräch vertieft ist. Jeder weiß, dass
       mit „Kakerlake“ der [1][amtierende Präsident Alexander Lukaschenko] gemeint
       ist.
       
       Noch Anfang des Jahres hätte niemand im verschlafenen Bobruisk gedacht,
       dass dieses Jahr etwas Besonderes passieren würde. Zwar wussten alle, dass
       Präsidentschaftswahlen anstehen und Lukaschenko, der seit 1994 an der Macht
       ist, wieder seinen überwältigenden Sieg verkünden würde.
       
       Doch dann [2][kam Corona und erreichte auch Belarus]. Die Pandemie
       verbreitet sich schnell. Viele fahren tagsüber oder an den Wochentagen in
       die Hauptstadt Minsk, also dorthin, wo die ersten Infektionen dokumentiert
       worden sind. Dann bringen sie das Virus in ihren Heimatort zurück.
       
       ## Dieses Jahr ist vieles anders
       
       Lange haben die Behörden die Gefahr verschwiegen und so getan, also sei
       nichts passiert. Auf dem Höhepunkt der Pandemie hat Lukaschenko sogar einen
       freiwilligen Arbeitseinsatz am Samstag und [3][eine Siegesparade
       angeordnet]. Das hat auch diejenigen Belarussen in Rage gebracht, die sich
       ansonsten mit allem abfinden. Denn es geht um das nackte Überleben, das
       Lukaschenko wenig kümmert.
       
       Es tut sich etwas. Auch in Bobruisk. Die Atmosphäre ist geradezu
       fantastisch. Bei den letzten Wahlen waren die Menschen noch verängstigt.
       Alternative Kandidaten konnten sich schon freuen, wenn ihnen jemand an
       einem Straßenstand ein freundliches „Ja, Sie müssen verstehen“ ins Ohr
       raunte, bevor er wieder in der Menge untertauchte.
       
       Doch jetzt gibt es Alternativen, [4][wie Swetlana Tichanowskaja]. Sie tritt
       gegen Lukaschenko anstelle ihres Mannes, Sergej Tichanowski an, der nicht
       zugelassen wurde und jetzt im Gefängnis sitzt.
       
       Tichanowskaja war mehrmals in Bobruisk. Das erste Mal regnete es in
       Strömen. Doch die Menschen stellten sich geduldig in lange Schlangen, um
       ihre Unterschrift für die Kandidatin zu leisten. Diese Schlangen sind zu
       einer Form der Meinungsäußerung geworden. Denn an einem anderen Tag hatten
       viele Menschen in Bobruisk eine Schlange gebildet, um gegen die
       Verhaftungen derer zu protestieren, die für Veränderungen kämpfen. Vielen
       war ein junges Pärchen aufgefallen, das in einem Polizeibus saß und nicht
       zu seinem Kind nach Hause gelassen wurde.
       
       Und als am Abend die Festgenommenen immer noch nicht freigekommen waren,
       hatte sich erneut eine Schlange gebildet. Und wieder wurden Demonstrierende
       willkürlich fest genommen. Eine Frau, die sich noch rechtzeitig mit einem
       Sprung in einen Bus vor der Festnahme retten konnte, berichtete später von
       einem Fahrgast, der den Busfahrer angebrüllt hatte, er solle die Frau noch
       hineinlassen. Er sei ein Polizist gewesen.
       
       ## Tichanowskaja ist Identifikationsfigur
       
       Den Festnahmen folgten Prozesse. Der Vorwurf lautete auf Teilnahme an einer
       nicht genehmigten Veranstaltung. Bewohner, die der Verhandlung beigewohnt
       hatten, waren danach fassungslos. Sonderpolizei in den Gerichtssälen hatte
       alle kurzerhand vor die Tür gesetzt, die nur kurz „Schande“ in Richtung der
       Richter geraunt hatten.
       
       Lukaschenko hatte wohl das Kalkül, dass er mit Grausamkeit die
       Proteststimmungen abkühlen werde. Doch das Gegenteil ist eingetreten, den
       Belarussen ist der Geduldsfaden gerissen. Mit der Kandidatin Swetlana
       Tichanowskaja identifizieren sich viele.
       
       Denn die Menschen sehen, dass sie genau das durchmacht, was andere auch
       durchgemacht haben. So ist ein ihr nahestehender Mensch verhaftet worden
       und man hat ihr gedroht, ihr die Kinder wegzunehmen. Und trotz all dem hat
       sie die Kraft, zu kämpfen. Diese Frau sorgt für Aufbruchstimmung.
       
       Als Tichanowskaja zum zweiten Mal in Bobruisk war, reiste sie schon als
       registrierte Kandidatin an. Zu dieser Veranstaltung waren über 8.000
       Besucher gekommen. So etwas hatte Bobruisk noch nie gesehen. Dass man sich
       in einem Stadion etwas außerhalb treffen musste, tat der Sache keinen
       Abbruch. Gegen Ende der Veranstaltung war es dunkel geworden, Licht gab es
       keins. Auf einmal drückten alle auf ihren Mobiltelefonen die
       Taschenlampenfunktion und es wurde ganz hell.
       
       ## Eingeschränkte Wahlbeobachtung
       
       Auch wenn der Höhepunkt der Wahlen am Sonntag ist, kann man auch jetzt
       schon in den Wahllokalen abstimmen. Und viele Menschen, die Angst haben,
       ihre Stimme könnte falsch oder nicht gezählt werden, betätigen sich als
       unabhängige Wahlhelfer. Einfach ist das nicht, hat doch die Zentrale
       Wahlkommission, angeblich wegen des Coronavirus, verfügt, dass sich nur
       drei Wahlbeobachter gleichzeitig in einem Wahllokal aufhalten dürfen. Und
       wer es trotzdem in ein Wahlbüro schafft, muss fürchten, von der Polizei vor
       die Tür gesetzt zu werden.
       
       Auch der Fall einer jungen Frau in Bobruisk hat viele Menschen zur Weißglut
       gebracht. Die junge Mutter hatte sich von der Wahlkommission nicht
       hinauswerfen lassen. Daraufhin ließ der Vorsitzende der Kommission die
       Polizei kommen. Die nahmen die Frau mit. Auf der Wache musste sie sich
       entkleiden und eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen.
       
       Am 9. August werden nicht nur in Minsk, sondern [5][auch in anderen Städten
       viele auf die Straße gehen]. Es werden junge Menschen sein, Rentner,
       Studierende und Arbeiter.
       
       „Weißt du“, sagt die Babuschka auf dem Platz neben der Banja und sieht auf
       ihre runzeligen, schwieligen Hände. „Mein Leben habe ich gelebt. Ich
       möchte, dass meine Enkel ein anderes Leben haben.“
       
       Aus dem Russischen von Bernhard Clasen
       
       8 Aug 2020
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Alexandrina Glagoljewa
       
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