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       # taz.de -- Kultur-Festivals in Corona-Krise: Neue Konzepte müssen her
       
       > Digital, national oder translokal – wie KünstlerInnen auf die
       > eingeschränkten Reisemöglichkeiten in Coronazeiten reagieren.
       
   IMG Bild: Vier Tage vor Premiere zurück nach Südafrika und Kanada: Jessica Nupen bei Probe zu „The Nose“
       
       Mehr Touren, noch größere Koproduktionen, je internationaler desto besser
       – das Prestige des Gastspielaustauschs und Festivalbetriebs der vergangenen
       zwanzig Jahre beruht auf diesen Ideen. Inszenierungen oder Tanz-Abende mit
       einem Dutzend Koproduzenten und Beteiligten sind keine Seltenheit,
       verbunden mit manchmal jahrelanger Vorbereitung, Probenarbeit und
       Aufführungen über Kontinente hinweg.
       
       Als im März das weltweite Reisen zum Erliegen kam, Festivals abgesagt
       wurden, kehrte erst einmal Ratlosigkeit ein, auch eine Solidaritätswelle –
       und bald auch die Erkenntnis, dass der internationale Betrieb seine
       Arbeitsweise überdenken muss.
       
       Nach vier Monaten mit Pandemie- und Reisebeschränkungen laufen nun wieder
       die ersten Festivals an und es herrscht fast schon Aufbruchstimmung. Es
       geht wieder los. Die Septemberspielpläne der deutschsprachigen Theater sind
       randvoll. Auch das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel Hamburg hat
       gerade begonnen. Das Programm ist üppig, zumindest auf den ersten Blick.
       
       In den großen Kampnagel-Hallen läuft jedoch nur ein Fünftel des
       ursprünglichen Programms, ein Teil ist auf drei Open-Air-Bühnen auf dem
       Gelände der ehemaligen Hafenkran -und Maschinenfabrik verlegt. Der Chilene
       Jose Vidal konnte seine Massen-Choreografie mit 100 Beteiligten gar nicht
       erst proben. Dagegen feiert Marlene Monteiro Freitas’ neue Arbeit auf dem
       Sommerfestival seine Weltpremiere.
       
       ## Komplizierte Lage
       
       „Das Koproduktionsgeschäft ist nicht weggebrochen, aber die Lage ist gerade
       sehr kompliziert, wegen geschlossener Theater, abgesagter Festivals,
       Reisebeschränkungen und wegfallenden Finanzierungen“, sagt
       Kampnagel-Leiterin Amelie Deuflhard. Der Wille ist nicht nur bei ihr,
       sondern an allen koproduzierenden Spielstätten groß, die geplanten
       internationalen Arbeiten zu verschieben, zu verändern und doch noch zu
       realisieren. Schon, um den intensiven Austausch und die Zusammenarbeit, die
       über Jahre aufgebaut wurden, zu sichern.
       
       Aber Covid-19 bestimmt weiter den Bewegungsradius. Als im [1][Juni das
       Festival Theaterformen] in Braunschweig modifiziert stattfand, konnten von
       den 170 geladenen, meist außereuropäischen Künstlern gerade noch 14 nach
       Braunschweig anreisen.
       
       Viele internationale Projekte erwischte das Reise- und Aufführungsverbot im
       März ganz kurz vor der Premiere. Die südafrikanische Choreografin Jessica
       Nupen musste die Künstlerinnen ihrer Rap-Tanz-Oper „The Nose“ vier Tage vor
       der Premiere aus Hamburg, wo auf Kampnagel die Endproben liefen, zurück
       nach Südafrika und Kanada schicken. Seit Sommer 2018 liefen die Proben und
       die Vorbereitungen.
       
       Der kanadische Rapper Josh „Socalled“ Dolgin hat die Musik komponiert, ein
       knappes Dutzend Förderpartner sind beteiligt. Das lang geplante Projekt ist
       nun auf Mai 2021 verschoben, Nupen ist optimistisch, dass es dann auf
       Kampnagel, den Maifestspielen Wiesbaden und weiteren Festivals gezeigt
       wird, trotz Mehrkosten von 100.000 Euro und der Ungewissheit, wann die Aus-
       und Einreise nach Südafrika wieder möglich ist.
       
       ## Eigene Perspektive hinterfragen
       
       „Alle schauen wieder mehr nach innen“, so beschreibt Nupen die Situation.
       Das sei jedoch genau das Gegenteil von dem Wunsch nach internationalem
       Austausch und gemeinsamen Arbeiten von Künstlern, um die eigene Perspektive
       mit dem Blick von außen zu bereichern und zu hinterfragen.
       
       Das internationale Arbeiten und Reisen hat sich in den vergangenen Jahren
       für viele Theatermacher zum Motor für ihre künstlerische Arbeit entwickelt.
       Der [2][Schweizer Theatermacher Milo Rau etwa hat sich den Blick über
       Sprach- und Landesgrenzen in sein Manifest für ein Stadttheater der
       Zukunft] geschrieben, als er 2018 die Leitung des belgischen NT Gent
       übernahm. „Jede Inszenierung muss an mindestens 10 Orten in mindestens 3
       Ländern gezeigt werden“ heißt es darin, oder dass einmal pro Jahr in einem
       Krisengebiet gearbeitet wird.
       
       [3][Im März probte Milo Rau in Brasilien „Antigone am Amazonas“, musste das
       Projekt dann aber abbrechen und nach Europa zurückkehren]. Die Fortsetzung
       am Amazonas scheint ungewiss. Das Manifest liest sich nun hinfällig,
       umschreiben will man es noch nicht. Das Team sucht nach kreativen Lösungen
       und überlegt, in Europa mit brasilianischen Performern, die hier leben,
       weiterzumachen. Über solche hybriden Formate denken in diesen Wochen viele
       nach.
       
       „Der ganze internationale Betrieb muss überdacht werden – da gibt es kein
       Entkommen“, beschreibt [4][Annemie Vanackere, Intendantin des Berliner
       Theaters Hebbel am Ufer, die Situation]. „Je internationaler desto besser,
       diese Maxime aus den 1990er und nuller Jahren nehmen wir gerade unter die
       Lupe. Nur lokal zu arbeiten, wäre als neues Dogma aber auch nicht der
       richtige Weg. Die Berliner Künstler*innen und Bewohner*innen sind so
       sehr mit anderen Menschen und Orten überall auf der Welt vernetzt, dass die
       Potenziale für neue Zugriffe auf der Hand liegen.“
       
       Translokal nennt Vanackere ihren Arbeitsbegriff für eine Vision zukünftigen
       internationalen Arbeitens. Es geht Vanackere um vertiefende Beziehungen
       zwischen einzelnen Orten, nicht Nationen. Die Künstler bringen ihre
       Herangehensweisen und Handschriften jeweils mit.
       
       ## Inszenieren aus der Ferne?
       
       Teils wird in der freien Szene und an den Stadt- und Staatstheatern bereits
       so gearbeitet. Die jetzige Situation erfordert unter Umständen noch mehr:
       Präsenz, ohne dass die internationalen Künstler unbedingt anwesend sind.
       „Die Frage ist dann: Wie kooperativ will man arbeiten, damit das möglich
       ist“, sagt [5][Helgard Haug von Rimini Protokol]l. Das Regiekollektiv hat
       mehrere Formate entwickelt, die weltweit in Dutzenden Städten adaptiert
       wurden.
       
       Ab August und Mitte September läuft ihr Audiowalk „Remote X“ in Berlin und
       Istanbul, jeweils inhaltlich für die Städte angepasst. Ein nächstes „100
       Prozent“-Projekt ist für Anfang Dezember in Kaohsiung, Taiwan, geplant,
       Brooklyn und Hongkong sollen nachgeholt werden. Die Vorarbeit und die
       Begleitung des Castingprozesses der 100 Mitwirkenden übernehmen heimische
       Künstlern und Assistenten vor Ort, in der Endphase kommen die
       Rimini-Mitglieder wieder dazu. „Aber wir denken gerade darüber nach, wie
       wir eine Umsetzung des Konzepts und die Inszenierung auch aus der Ferne
       bewerkstelligen könnten“, sagt Haug
       
       Wissenstransfer und Austausch wird also zu dieser neuen Internationalität
       gehören. Noch mehr als bisher. Erfahrungen mit kooperativen Projekten und
       experimentellen Formaten sind gesammelt, darauf lässt sich aufbauen. An
       erster Stelle steht jedoch erst einmal, den internationalen Künstlern zu
       helfen, die in ihren Ländern keine Unterstützung bekommen.
       
       Die Choreografin Jessica Nupen weiß, dass die Coronabeschränkungen für die
       15 freien Künstler in Südafrika, mit denen sie zusammenarbeitet,
       schlichtweg eine Katastrophe sind. Die Ausgangssperren treffen sie doppelt,
       weil Zweitjobs dadurch wegfallen. Nupen kann Honorare erst wieder zahlen,
       wenn geprobt wird und Aufführungen zustande kommen. Mit Glück ab nächstem
       Frühjahr.
       
       ## Verlängerte Förderfristen
       
       Zehn Projekte stehen derzeit still, die aus dem TURN-Fonds der
       Kulturstiftung des Bundes mitfinanziert werden. Das Programm fördert
       Kooperationen zwischen Deutschland und afrikanischen Ländern. Jessica
       Nupens „The Nose“ gehört dazu, auch die Performance-Serie „Est-ce un humain
       / Ist das ein Mensch“ von kainkollektiv mit Performern aus Kamerun und
       Madagaskar. Vonseiten der Bundeskulturstiftung hat man die Fristen
       verlängert, digitale Aufführungen ermöglicht, und Förderrichtlinien
       modifiziert, um den Projekten zu helfen.
       
       Das ist das Maximum, was das Zuwendungsrecht erlaubt. Für das
       Fortsetzung-Programm TURN2, das 2021 startet, gelten jedoch wieder die
       alten Regeln: Ziel ist kultureller Austausch, die Erfahrung des gemeinsamen
       Arbeitens und Aufführungen in mehreren Ländern, also Reisen zwischen
       afrikanischen Ländern und Deutschland. Aber das muss erst einmal wieder
       möglich werden, so wie man es kannte.
       
       Fabian Lettow von kainkollektiv hofft, dass im Februar 2021 alle
       Künstlerinnen wieder zusammen kommen. Der Status quo allerdings ist offen,
       noch sind zwei Beteiligte nicht einmal zurück bei ihren Familien. Auf der
       Heimreise sind sie steckengeblieben. Einer sitzt in Brüssel fest, ein
       anderer kongolesischer Tänzer wartet im Kamerun weiter darauf, in den Kongo
       zurückzukehren.
       
       13 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
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