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       # taz.de -- Schulfach Politische Bildung: Impfstoff gegen Extremismus
       
       > Das Land Berlin setzt auf mehr Politikunterricht und mehr
       > Beteiligungsprojekte. Dazu rät auch eine aktuelle Studie der
       > Friedrich-Ebert-Stiftung.
       
   IMG Bild: Ort der Demokratie: eine Berliner Schulklasse zu Besuch im Reichstag
       
       Berlin taz | Vor einem Jahr sorgten nicht Masken oder Abstandsregeln für
       Aufregung an Berliner Schulen, sondern die neue Stundentafel. Zumindest bei
       den Ethik-, Geschichts-, und Erdkundelehrer:innen. Denn für [1][das
       neue Fach Politische Bildung] – das bis dahin Teil des Faches Geschichte
       war und das nun plötzlich für Sekundarschüler:innen der Klassen 7 bis
       10 als eigenständiges Fach auf dem Stundenplan auftauchte – mussten sie
       Stunden abgeben. Für die Schulleiter:innen hieß das: Verteilungskämpfe
       schlichten.
       
       Martin Brendebach weiß, dass die Entscheidung kurzzeitig für Unmut gesorgt
       hat. „Nicht alle Lehrkräfte konnten nachvollziehen, warum wir die
       politische Bildung aus Geschichte herausgelöst haben“, sagt der
       Fachreferent aus der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und
       Familie rückblickend. Brendebach ist dort für den Fachbereich der
       gesellschaftswissenschaftlichen Fächer zuständig.
       
       Nach der Entscheidung, die politische Bildung zu stärken, habe er oft das
       Argument gehört, dass Geschichte ja immer im Kontext der aktuellen
       politischen Ereignisse vermittelt werde. Ein eigenes Fach sei deshalb nicht
       notwendig. „Unser Eindruck war jedoch ein anderer“, so Brendebach. In der
       Realität sei der Politikunterricht oft zu kurz gekommen. „Vor allem an den
       Integrierten Sekundarschulen hatten wir den Eindruck, dass das Fach so gut
       wie gar nicht unterrichtet worden ist.“
       
       Nun, ein Jahr nach der Reform, belegt eine Studie der
       Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) Brendebachs Eindruck. Eines der zentralen
       Ergebnisse der Erhebung, die diesen Mittwoch vorgestellt wird:
       Schüler:innen an Sekundarschulen erhielten vor der Stärkung der
       politischen Bildung deutlich weniger Politikunterricht als
       Gymnasiast:innen. In der Jahrgangsstufe 9 bis 10 gab jede und jeder
       dritte Gymnasiast:in an, drei Schulstunden pro Woche Politikunterricht zu
       haben. Bei den Sekundarschüler:innen konnten das gerade mal 1,4
       Prozent von sich sagen. Eine ähnliche Verteilung ergibt sich in der
       Oberstufe.
       
       ## 20 Jahre vernachlässigt
       
       Eine weitere Erkenntnis der FES-Studie, für die 596 Berliner
       Schüler:innen befragt worden sind: In den höheren Klassen, wo bereits vor
       der Reform Politik unterrichtet worden ist, ist auch die Zustimmung zur –
       und das Vertrauen in die – Demokratie höher. Auch die Bereitschaft, sich
       selbst zu engagieren, steigt mit dem Alter – und dem Anteil des
       Politikunterrichts. „Die Studie zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg
       sind“, sagt Martin Brendebach vom Berliner Senat.
       
       Auch andere Bundesländer, [2][zum Beispiel Sachsen], haben in den
       vergangenen Jahren die politische Bildung gestärkt. Zum einen, weil Schulen
       immer häufiger über Gewalt gegen Lehrkräfte, Mobbing oder Antisemitismus
       berichten. Zum anderen, weil die [3][Erfolge der AfD auch unter jungen
       Wähler:innen] und die politischen Entwicklungen in Ländern wie Ungarn,
       Polen oder den USA gezeigt haben, wie verletzlich Demokratien sind.
       
       Die Kultusministerien haben festgestellt, wie stark der Auftrag,
       [4][Schüler:innen zu Demokrat:innen zu erziehen], in den vergangenen
       20 Jahren vernachlässigt worden ist. „Vielleicht haben wir alle über viele
       Jahre die Demokratie für etwas Selbstverständliches gehalten und lernen
       seit ein paar Jahren schmerzlich, das dem nicht so ist“, sagt dazu Martin
       Brendebach. „Wir müssen darauf reagieren, und das tun wir.“
       
       Handlungsbedarf erkennt auch Sabine Achour, Politikdidaktik-Professorin von
       der Freien Universität Berlin und eine der Autorinnen der Studie. „Wir
       erkennen ein klares Muster zwischen politischer Bildung sowie
       Demokratiebildung und positiven Einstellungen zur Demokratie“, sagt Achour
       der taz. Dieser Zusammenhang sei zwar schon von einer [5][vorangehenden,
       bundesweiten Erhebung bekannt], die Berlin-Studie zeige jedoch ein paar
       spannende Besonderheiten und räumt mit Stereotypen auf: „Es gibt bei den
       Einstellungen der Berliner Schüler:innen erfreulicherweise keinen Diversity
       Gap“, so Achour. „Das heißt: Schüler:innen mit Migrationshintergrund
       wertschätzen Demokratie ebenso wie Schüler:innen ohne
       Migrationshintergrund.“
       
       ## Kein Bock auf Social-Media-Debatten
       
       Eine zweite Auffälligkeit sei, dass die Bereitschaft der Schüler:innen,
       sich mit zunehmendem Alter stärker engagieren zu wollen, sich nur in einem
       Bereich nicht einstelle: bei Social Media. „Meine Interpretation wäre, dass
       Jugendliche schon früh schlechte Erfahrungen mit Debatten im Netz machen.“
       Demokratiebildung müsse somit auch Medienbildung sein.
       
       Für Politikwissenschaftlerin Achour, die den Berliner Senat in Fragen der
       Demokratiebildung berät, lassen diese Befunde zwei Schlüsse zu. Erstens: Je
       früher und umfangreicher Schüler:innen über politische Themen reden, desto
       besser. Und zweitens: Je mehr sie sich bei den Themen und Projekten selbst
       beteiligen dürften, umso schüler:innenorientierter werden Schule und
       Unterricht. „Wir sehen ja an [6][Fridays for Future] oder auch am
       Nahostkonflikt, dass bestimmte politische Themen jungen Menschen sehr
       nahegehen.“
       
       Sie empfiehlt: Expertise an die Schulen holen. „Wir haben in Berlin ein
       fantastisches Angebot an außerschulischen Bildungsträgern, die von
       [7][Antisemitismus] bis Verschwörungsnarrativen auch ‚heiße‘ Themenbereiche
       abdecken.“ Die gelte es zu nutzen. Das versucht der Berliner Senat.
       Zusammen mit Vertretern außerschulischer Bildungsarbeit wurde eine
       Strategie zur Demokratiebildung entwickelt, die die Projektarbeit an
       Schulen stärken soll.
       
       ## Mehr Geld für Projekte
       
       Ein Baustein: Ab kommenden Jahr stehen jeder Schule 3.000 Euro für
       Politische Bildung zur Verfügung. Natürlich sei wünschenswert, wenn die
       Schüler:innen an der Entscheidung, wofür das Geld ausgegeben wird,
       beteiligt werden, sagt Martin Brendebach vom Berliner Senat.
       
       Weitere Bausteine: eine jährliche Klimakonferenz, die Schüler:innen
       mitgestalten, und weitere [8][Schulprojekte zum Thema Nachhaltigkeit] sowie
       die Ausweitung bereits bestehender Beteiligungsprojekte wie der
       „Schüler*innen-Haushalt“, bei dem Schüler:innen in Eigenregie darüber
       entscheiden dürfen, welche Schulanschaffung sinnvoll ist.
       
       Ob dann letztlich ein Trampolin oder eine Playstation dabei rauskommt, sei
       nebensächlich, so Brendebach: „Wichtig ist, dass Jugendliche merken, dass
       sie von der Politik ernst genommen werden.“
       
       2 Sep 2020
       
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   DIR [5] http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/15466.pdf
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   DIR Ralf Pauli
       
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