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       # taz.de -- Vier Sichtweisen zum Du und Sie: Die Dutopie
       
       > Die Deutsche Bahn will ihre Kund:innen künftig auf Facebook und Twitter
       > duzen. Wir fragen uns: Werden wir alle nie mehr gesiezt?
       
   IMG Bild: „Du“ ist ganz nah, „Sie“ hingegen weit weg
       
       ## Wie FKK der Ü50-Jährigen
       
       Wenn einem als junger Mensch das erste Sie entgegentritt, ist man erst
       peinlich, dann schmerzhaft berührt. Ist das jetzt eigentlich angemessen?
       Bin ich wirklich schon so alt? Gehöre ich nun echt zu denen? Dass man
       zumeist beim Vornamen gesiezt wird, macht den Übergang aber etwas leichter:
       Spätestens, wenn die Uni losgeht, erwartet niemand mehr, innerhalb einer
       Institution ungesiezt zu bleiben; und draußen geht ja alles weiter seinen
       geduzten Gang.
       
       Nun läuft das Leben so dahin, man fragt irgendwann nichts ahnend jemanden
       nach dem Weg und bekommt ein eiskalt-überschauerndes „Da müssen Sie da und
       da hin“ retour. „Sie“? Ja: Stand der erste Ansprachewechsel zu Schulzeiten
       für den Eintritt in etwas, so hämmert dieses selbstverständliche
       Straßen-Sie der Jüngeren den Abschied fest. Das Tor zur Jugend ist
       geschlossen, für immer. Wenigstens untereinander wird deshalb versucht,
       den Frühlingshauch des Du irgendwie noch zu bewahren.
       
       Nichts sagen Boomer bei Erstbegegnungen so begierlich wie: „Wir duzen uns
       doch, ja?!“ Hartherzig, wer hier beim Siezen bliebe: Das Du der
       Ü50-Jährigen ist ein bisschen so wie FKK. Wenn es alle machen, macht man
       halt mit, man hat nichts mehr zu verbergen, man kann alles zeigen. Das
       Alter macht aus uns Genossen. Wir haben es schon hinter uns. Und Sie?
       Ambros Waibel
       
       ## Nähe, die im Sie stecken kann
       
       Meine beiden Omas verbindet viel, genauso viel trennt sie wahrscheinlich
       aber auch. Die eine hat es vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren nach
       Deutschland gezogen, die andere ist in einem Überbleibsel der zerfallenen
       Sowjetunion geblieben. Beide sind meine Babuschka, was russisch ist und Oma
       bedeutet.
       
       Zu beiden Babuschkas habe ich eine ähnlich enge Beziehung, dennoch bedingen
       ihre unterschiedlichen Lebensorte und -kontexte, wie ich mit ihnen spreche
       oder konkreter: wie ich sie anspreche.
       
       Die in Deutschland lebende duze ich, die andere sieze ich. Viele Jahre war
       mir dieser Unterschied gar nicht bewusst, ich war eben Kind und von
       gesellschaftlichen Konventionen, die sehr gegensätzlich sein können, hatte
       ich noch keine Ahnung. Auch meine Tanten und Onkel, die nicht in
       Deutschland leben, sieze ich.
       
       In vielen russischsprachigen Familien werden Eltern und Großeltern, Tanten
       und Onkel gesiezt. So gehört sich das da einfach, es hat mit Anstand und
       Höflichkeit zu tun. Vor allem aber mit Respekt. Großeltern, Eltern, Tanten
       und Onkel sind älter, und weiser sind sie auch, so der gesellschaftliche
       Konsens; mit dem Sie werden die Lebensjahre des Gegenübers gewürdigt.
       Anders als im Deutschen, kann man sich im Russischsprachigen also siezen
       und sich dennoch ganz nah sein.
       
       Auch außerhalb der Familie wird sehr viel länger gesiezt als im Deutschen.
       Selbst Gleichaltrige sprechen sich im Erwachsenenalter zu Beginn des
       Kennenlernens erst einmal mit Sie an, später dann, irgendwann, kann man
       aufs Du ausweichen – es ist aber kein Muss.
       
       Das klingt für deutsche Ohren wahrscheinlich alles furchtbar distanziert.
       Muss es aber gar nicht sein. Denn das Russische hat vorgesorgt und
       sprachliche Wege gefunden, um nicht auf das holprige Herr oder Frau
       ausweichen zu müssen. Verwandte spricht man mit Oma/Opa plus Sie an, Onkel
       und Tanten mit Onkel/Tante soundso plus Sie.
       
       Für andere Nahestehende gibt es die Möglichkeit des Siezens in Kombination
       mit Vorname und Vatername. Ein Beispiel: Es kann vorkommen, dass eine
       russischsprachige Person die eigenen Schwiegereltern siezt und sie trotzdem
       schon sehr lange kennt, mit ihnen vertraut ist und zu ihnen ein enges,
       freundschaftliches Verhältnis pflegt. Diese Person würde dann zur
       Schwiegermutter nicht „Frau soundso...“ sagen, sondern die Schwiegermutter,
       die, sagen wir mal Tatjana heißt und deren Vater Alexej war, folgendermaßen
       ansprechen: „Tatjana Alexejewitsch, wie schön, mit Ihnen am Tisch zu
       sitzen, reichen Sie mir doch mal die Weinflasche, wir trinken auf unsere
       Freundschaft!“ Klingt trotzdem sehr vertraut, oder? Erica Zingher
       
       ## Du oder Sie zukünftiger König?
       
       Daniel Westling hat das schöne Schweden vor große Fragen gestellt. Westling
       war der persönliche Fitnesstrainer der schwedischen Kronprinzessin Victoria
       – bis es, ups, unter der Hantelbank funkte. Oder auf dem Laufband.
       
       Westling, ein Bürgerlicher (!), der kaum Englisch sprach (!), ein
       Provinzler (!) ohne Kenntnis der königlichen Etikette (!), schien der sonst
       so liberalen schwedischen Presse nicht angemessen für die Thronfolgerin.
       Allein die Beziehung der beiden war ein Eklat.
       
       Als dann auch noch im Haushaltsentwurf des Außenministeriums für das Jahr
       2008 der Punkt „Vorbereitungen einer königlichen Hochzeit“ auftauchte, war
       endgültig klar: Schweden würde sich mit dem gestriegelten
       Fitnessbuden-Besitzer arrangieren müssen. Die Frage war nur, wie?
       
       In Schweden gilt – „Hej du, Willkommen bei Ikea“ – seit Ende der 1960er
       Jahre das Du. Damals boten Unternehmenschefs ihren Mitarbeitern das Du an,
       gesprochen wird es Dü. 1969 zog der damalige Ministerpräsident Olof Palme
       mit und forderte JournalistInnen auf einer Pressekonferenz auf, ihn künftig
       zu duzen. Für Schweden, wo man sich bis dahin nicht nur mit Sie, sondern in
       der dritten Person Singular ansprach – „Möchte der Herr Fitnesstrainer
       heute mit zum Joggen kommen?“ zum Beispiel –, war das eine Revolution. Seit
       dem duzt man jeden und jede – außer die Mitglieder der königlichen Familie.
       
       Die Frage war nun: Ab wann ist Daniel ein siezwürdiges Mitglied der
       königlichen Familie? Ab Verlobung oder ab Hochzeit? Also wenn man ihn, vor
       der Hochzeit, sagen wir, zufällig auf dem Crosstrainer getroffen hätte,
       hätte man dann gesagt: „Hej Daniel, dein Proteinshake da, der sieht super
       aus. Verrätst du mir das Rezept?“ Oder hätte man gesagt: „Hej Sie, Olof
       Daniel Westling Bernadotte, Prinz von Schweden, Herzog von Västergötland.
       Ihr Proteinshake“ und so weiter und so fort.
       
       Die Frage wurde ernsthaft diskutiert in Schweden. Schließlich wurde
       entschieden: Sie, Daniel, gilt ab der Hochzeit, seit Juni 2010. Seitdem
       trägt er den offiziellen Titel „Seine königliche Hoheit“. Ob auch Ikea sich
       daran hält, wenn es den neuesten Katalog im Schlossbriefkasten abwirft, ist
       nicht bekannt. Anne Fromm
       
       ## Geduzte Kritik geht mehr zu Herzen
       
       Zivildienst zu einer Zeit, als Altenheime noch ehrlicherweise Altenheime
       hießen und noch nicht zu „Seniorenresidenzen“ umetikettiert wurden, weil’s
       besser klingt: Der Heimleiter – so hieß das wirklich – siezte alle,
       natürlich. Er, ehemaliger Hauptfeldwebel der Bundeswehr, hielt Distanz und
       drückte es auch durch die Ansprache aus. Hierarchie war ihm wichtig. Das
       mit dem gegenseitigen Siezen passte und kam mir gelegen, weil wir uns nicht
       besonders mochten.
       
       Irgendwann ist in die Büro-Arbeitswelt das Du eingesickert. Flache
       Hierarchien und so, der Chef trägt ganz locker Turnschuhe, und nach
       Feierabend trinkt man noch gemeinsam ein Bier und tut so, als wäre man wie
       eine Familie. Das ist natürlich meistens verlogen (außer bei der taz
       vielleicht, wo es zur linken Tradition gehört), weil die Hierarchien mit
       dem Duzen natürlich nicht verschwinden. Und wenn es mal zu einem Konflikt
       kommt, wird er durch das Geduze schnell persönlich. „Die Präsentation
       hättest du aber besser machen können, Jonas“ nimmt sich Jonas vermutlich
       mehr zu Herzen als einen gesiezten Tadel. Das Sie in hierarchischen oder
       rein funktionalen Beziehungen wie zwischen Kundin und Geschäft schafft
       Sicherheit, wenn es mal ernst wird, und erspart Enttäuschungen. Die liebe
       Bahn oder das liebe Easyjet, die einen so ungefragt-kumpelig anduzen, sind
       eben nicht mehr der nette Kumpel, wenn es Streit um das Ticket gibt oder
       die Reise plötzlich ausfällt.
       
       Das Duzen außerhalb der Familie kommt ursprünglich aus der
       Proletarier-Arbeitswelt und dort, wo es eher rustikal zugeht. Auf dem Bau
       haben sich Polier und Arbeiter schon immer geduzt. Als Kind war ich oft auf
       dem Schiff, wo mein Vater arbeitete. Auch da hat sich jeder geduzt. Klar
       gab es auch dort Hierarchien – und was für welche –, aber dort, wo es laut
       und schmutzig ist und es schnell gehen muss, würde man sich mit einem
       Gesieze schnell lächerlich machen.
       
       Wenn die Blue-Collar-Arbeitswelt angemessene Tantiemen für das Du
       einstreichen könnte, das in Büros und von sich hip gebenden Unternehmen
       nachgeäfft wird, wäre das eine gute Sache: Dann wären die nächsten
       Verhandlungen um mehr Lohn nicht mehr so stressig – man hätte schon genug
       Geld. Gunnar Hinck
       
       3 Sep 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
   DIR Erica Zingher
   DIR Anne Fromm
   DIR Gunnar Hinck
       
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