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       # taz.de -- Urteil zum Kopftuchverbot an Schulen: Schluss mit dem Dogma
       
       > Bizarr, dass gerade Berlin noch glaubt, Lehrerinnen mit Kopftuch seien
       > eine Gefahr für den Schulfrieden. Das Gegenteil könnte der Fall sein.
       
   IMG Bild: Türkische Schülerin im Unterricht: Immer mehr junge Frauen mit Kopftuch studieren
       
       Seit mehr als 20 Jahren beschäftigt die Frage, ob Frauen, die das
       islamische Kopftuch tragen, an deutschen Schulen unterrichten dürfen, immer
       wieder die Gerichte und führt zu heftigen gesellschaftlichen Debatten. Auch
       um das Berliner Neutralitätsgesetz, das LehrerInnen an allgemeinbildenden
       Schulen, PolizistInnen und Landesbediensteten [1][im Justizwesen das Tragen
       religiöser oder weltanschaulich konnotierter Symbole] und Kleidungsstücke
       im Dienst verbietet, wird schon lange gerungen. Vorige Woche nun erklärten
       die RichterInnen [2][des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt das Gesetz in
       dieser Allgemeinheit für verfassungswidrig]. Nur [3][der Gang nach
       Karlsruhe] kann es vielleicht retten. Die Frage ist: Wollen wir das?
       
       Zunächst ein Geständnis: Wie viele christlich sozialisierte Biodeutsche –
       Bio im Sinne von Biografie, nicht Biologie – verspürte ich lange Unbehagen
       bei der Vorstellung, dass mein Kind von einer Lehrerin mit Kopftuch
       unterrichtet wird. Als alte Linke halte ich es mit Karl Marx und seinem
       Diktum über Religionen. Und obwohl das viele anders sehen, haben wir uns in
       den „westlichen“ Demokratien darauf verständigt, dass religiöse
       Indoktrination an Schulen nichts verloren hat. Der „bekenntnisorientierte“
       Religionsunterricht zeigt zwar, dass wir hier nicht im Laizismus leben,
       aber mehr Religion an Schulen ist nicht.
       
       In vielen islamisch geprägten Ländern ist das anders. Dort ist die
       Einhegung der Religion in staatlich festgelegte und gesellschaftlich
       anerkannte Grenzen bislang nicht gelungen. Im Gegenteil: Seit im Iran 1979
       die Mullahs die Macht übernahmen, sind konservative bis reaktionäre
       Auslegungen des Islam weltweit auf dem Vormarsch. Das zeigt auch der Umgang
       mit „dem Tuch“: Der gesetzliche Kopftuchzwang in Iran ist wohl der
       extremste Ausdruck religiöser Bevormundung, aber in so gut wie allen
       islamischen Ländern gibt es heute einen starken Konformitätsdruck auf
       Frauen, das Tuch zu tragen. Wer dagegen aufbegehrt, wandert auch schon mal,
       wie im Iran, auf Jahre ins Gefängnis.
       
       Auch hierzulande gibt es Mädchen und Frauen, die unters Tuch gedrängt bis
       gezwungen werden. Auch hier gibt es radikale Muslime, die Demokratie und
       Säkularisierung ablehnen. Die Gleichung „Kopftuch gleich Islamismus“ stimmt
       trotzdem nicht. Natürlich steht das Kopftuch für ein konservatives
       Frauenbild und Geschlechterverhältnis. Aber [4][wenn jemand freiwillig das
       Tuch tragen will] – bitte sehr. Dass der Mehrheitsgesellschaft diese
       Einstellung nicht gefällt, ist kein Grund, diesen Menschen bestimmte Berufe
       zu verwehren.
       
       Übrigens sagen Migrationsforscher, dass die Re-Islamisierung vieler
       muslimischer MigrantInnen bzw. ihrer Kinder und Kindeskinder auch Ergebnis
       ihrer fortgesetzten Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft ist. Wer
       jahrzehntelang signalisiert bekommt, dass er [5][nicht dazugehört], dass
       er anders ist, ob in Schule, Arbeit, Freizeit oder im
       Staatsbürgerschaftsrecht, zieht sich auf die „eigene“ Tradition,
       Gemeinschaft, Religion zurück.
       
       Trotz alldem [6][schaffen immer mehr MigrantInnen den sozialen Aufstieg] –
       und immer mehr junge Frauen mit Kopftuch studieren. Doch als wäre es der
       Mehrheitsgesellschaft lieber, sie blieben Putz- oder Hausfrauen, haben seit
       den nuller Jahren viele Bundesländer mehr oder weniger explizite
       „Kopftuchgesetze“ installiert. Zwar wurde der damalige „Vorreiter“ NRW 2015
       vom Bundesverfassungsgericht ausgebremst. In dem wegweisenden Urteil
       stellten die Richter fest, dass Lehrerinnen mit Kopftuch nicht pauschal
       eine Bedrohung der staatlichen Neutralität oder des „Schulfriedens“ sind.
       Doch ausgerechnet „Multikulti-Berlin“ hält hartnäckig an seinem
       Neutralitätsgesetz fest – mit dem Argument, es würde ja alle religiösen
       Kleidungsstücke verbieten, also auch das Nonnenhabit und die jüdische
       Kippa.
       
       Auf dem Papier mag das so sein. De facto wurde das Gesetz 2005 gegen
       Musliminnen gemacht. Das zeigt seine Genese im Zuge der Kopftuchdebatte
       Anfang der nuller Jahre ebenso wie die Argumentation der Berliner
       Bildungsverwaltung, in der bis heute nur von Religionskonflikten mit
       muslimischem Bezug und nur von Lehrerinnen mit Kopftuch als schlechtem
       Beispiel die Rede ist.
       
       Doch auch wenn man das Argument von der Neutralität beim Wort nimmt:
       Natürlich müssen sich LehrerInnen in der Bekundung persönlicher Ansichten
       zu Religion oder politischer Präferenz zurückhalten. Aber ob sie das tun
       können und im Schulalltag tatsächlich tun, kann man nicht an der Kleidung
       ablesen.
       
       Was man tun kann: Die Vorgabe machen, dass sich alle LehrerInnen auf den
       Boden des Grundgesetzes stellen – und dies im Einzelfall prüfen.
       Andersherum gesagt: Die Unschuldsvermutung gilt für alle, auch für
       Musliminnen mit Kopftuch. Das ist auch die Maßgabe, die inzwischen in allen
       Bundesländern (außer Berlin) gilt, in denen es Regelungen dazu gibt. Sogar
       Bayern hat erklärt, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine Lehrerin mit
       Kopftuch den „verfassungsrechtlichen Grundwerten und Bildungszielen der
       Verfassung einschließlich der christlich-abendländischen Bildungs- und
       Kulturwerte“ widerspricht.
       
       Warum also hält Berlin an dem Dogma fest, dass Kopftuch tragende
       Lehrerinnen grundsätzlich eine Gefahr wären für den Schulfrieden, weil sie
       religiöse Konflikte befeuerten – die es an manchen Schulen zweifelsohne
       gibt? Wäre es nicht umgekehrt gut vorstellbar, dass eine Lehrerin mit
       Kopftuch viel besseren Zugang hätte zu streng islamischen Eltern, die ihre
       Tochter mit Kopftuchzwang oder Schwimmverbot drangsalieren, und sie eher
       vom Gegenteil überzeugen kann als ihre christlichen oder atheistischen
       KollegInnen? Kann eine Lehrerin mit Kopftuch nicht muslimischen Kindern,
       die ihre MitschülerInnen mit Speisevorschriften („Gummibärchen sind haram“)
       nerven, viel glaubwürdiger vermitteln, dass ihr Missoniergehabe fehl am
       Platz ist? Bald werden wir es wissen. Und das ist gut so.
       
       3 Sep 2020
       
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