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       # taz.de -- Mit Strom gegen den Schmerz: Abgeschwächtes Schmerzsignal
       
       > Mit elektrischen Signalen verdrängen Mediziner chronischen Schmerz. Neue
       > Technologien sollen die Behandlungen schonender machen.
       
   IMG Bild: Wenn der Schmerz unerträglich wird, sind klare Gedanken kaum noch möglich
       
       Chronische Schmerzen beeinträchtigen das ganze Leben. Medikamente gibt es
       zwar, doch nicht bei jedem helfen sie – und viele von ihnen machen schnell
       abhängig. Die elektrische Neuromodulation ist daher eine Möglichkeit, die
       Lebensqualität zu verbessern. Dabei werden Elektroden in den Körper
       implantiert, zumeist an der Wirbelsäule zwischen Nerven und Knochen. Sie
       leiten Strom, der das Schmerzsignal teilweise blockiert.
       
       Neu ist die Methode nicht. „Neuromodulation führen wir seit den 80er Jahren
       durch“, sagt Dr. Ali Alrefaie, Oberarzt in der Klinik für Neurochirurgie am
       Klinikum Darmstadt. Doch die Technik ist seitdem im Wandel, Neuerungen
       sollen den Patienten den Eingriff erleichtern.
       
       An einer Innovation arbeitet Dr. Andrew J. Shoffstall von der Case Western
       Reserve University in Ohio mit seinen Kollegen. Sie nennen es die
       „Injectrodes“: Elektroden, die zuerst flüssig sind. Erst, wenn sie über
       eine Spritze in den Körper gelangt sind, verfestigen sie sich. Die
       Konstrukte aus Klebstoff und leitfähigen Materialien können dann
       elektrische Signale weitergeben und die Nerven wie bisherige Elektroden
       stimulieren.
       
       Die Injectrodes hätten gegenüber den herkömmlichen Methoden den großen
       Vorteil, dass keine aufwendigen und invasiven Operationen mehr nötig wären.
       Das hat auch einen finanziellen Nutzen. Bisher kostet eine Operation etwa
       15.000 bis 20.000 Euro. Wenigstens übernehmen das im Normalfall die
       Krankenkassen, wenn es keine anderen Behandlungsmöglichkeiten mehr gibt.
       
       Gerade bei Patienten, die bereits mehrfach an der gleichen Stelle operiert
       wurden, können die Elektroden manchmal nicht an den richtigen Ort gebracht
       werden, erklärt Ali Alrefaie eine weitere Schwierigkeit. Das könnten die
       flüssigen Elektroden ändern. „Wir können die Injectrode direkt um die
       Nerven spritzen“, sagt Andrew Shoffstall. Knochen und Muskeln helfen dabei,
       die richtige Form zu finden.
       
       ## Noch nicht reif für klinischen Einsatz
       
       Bisher haben Shoffstall und seine Kollegen allerdings nur getestet, ob es
       theoretisch funktioniert. Von einem Einsatz bei Patienten ist noch lange
       nicht die Rede. Einen wichtigen Schritt haben sie immerhin geschafft: Den
       Kontakt herzustellen zwischen den lebenden Nervenzellen und der
       medizinischen Technologie. „Nun brauchen wir einen Pulsgenerator, der die
       Stromstärke und Frequenz vorgibt“, so Shoffstall. Den Generator an die
       Injectrode zu kleben, funktioniere bereits gut. Bei Patienten müsste man
       ihn allerdings auch unter die Haut implantieren.
       
       Bei vielen ihrer Tests arbeiten Shoffstall und sein Team bisher mit Silber
       als leitfähiges Material. Für Menschen wäre das auf Dauer toxisch. Derzeit
       werden in der Neuromodulation im Patienten [1][Gold] oder Platinum
       verwendet. Für die Wissenschaftler ist es allerdings eine Kostenfrage, denn
       diese Materialien sind sehr teuer. In kurzen Versuchen reicht das Silber
       aus, um die Injectrodes zu testen. Sie funktionieren aber ebenso mit
       Edelmetallen.
       
       Dass die Forschung zur Injectrode noch am Anfang steht, ist Shoffstall
       klar. Doch er ist überzeugt, eine vielversprechende Technologie gefunden zu
       haben. Und so gründete er das Start-Up Neuronoff, gemeinsam mit Dr. Manfred
       Franke, Dr. Kip Ludwig und weiteren Kollegen. Das Unternehmen widmet sich
       voll und ganz der Entwicklung der Injectrode. Finanziert wird es bisher vom
       amerikanischen National Institute of Health (NIH), das Neuronoff im
       vergangenen Jahr 2,2 Millionen US-Dollar zusprach – als Teil eines
       Projektes zur Linderung von [2][chronischen Schmerzen] und der Bekämpfung
       der [3][Schmerzmittelsucht.]
       
       „Die Injectrode ist noch nirgendwo auf der Welt für die Nutzung am Menschen
       zugelassen“, betont Manfred Franke, CEO von Neuronoff. Das gelte auch für
       Forschungsfragen. Die Wissenschaftler setzen ihre Arbeit vorerst im
       Tiermodell fort, bis klinische Studien bewilligt werden. Ob die Injectrodes
       sich tatsächlich eignen, um die Schmerzen von Patienten zu lindern, muss
       sich zeigen. Bis zur Anwendung ist es also noch ein langer Weg. Shoffstall
       und Franke hoffen jedenfalls, dass es so schnell wie möglich geht. Auf
       einen Zeitrahmen wollen sie sich lieber nicht festlegen.
       
       Solange – oder bis es andere Veränderungen in der Neuromodulation gibt –
       müssen sich die Patienten mit der Operation und den festen Elektroden
       zufriedengeben. Allerdings funktioniert das selbst dann nicht bei allen
       Betroffenen, wenn die Einpflanzung der Elektroden wie geplant klappt.
       Deshalb wird die Stimulation nach der ersten OP für etwa zehn Tage
       getestet, bevor auch der Akku unter die Haut gesetzt wird.
       
       ## Technik ist nicht unfehlbar
       
       Bei manchen Menschen hilft die Neuromodulation kaum oder gar nicht. In
       diesem Fall müssen die Elektroden wieder entfernt werden, was eine
       körperliche und psychische Belastung ist. Außerdem können die Elektroden
       verrutschen, sagt Ali Alrefaie. „Dazu kommt das Risiko einer Infektion,
       immerhin ist es ein Fremdkörper.“ Oder die Technik fällt aus, schließlich
       ist sie nicht unfehlbar, auch wenn sie in einem Menschen steckt.
       
       Bei denjenigen, die von der Neuromodulation profitieren, ist der Schmerz
       nicht vollständig verschwunden. Der Strom blockiert die Andockstellen im
       Körper, die für die Schmerzinformation verantwortlich ist. Das funktioniert
       allerdings nur teilweise, so dass ein abgeschwächtes Schmerzsignal trotzdem
       im Gehirn des Patienten ankommt. Für Viele kann die Verminderung immerhin
       schon eine große Hilfe sein.
       
       Selbst dann gibt es einen Fallstrick: Die Gewöhnung. Bei manchen Patienten
       nehmen die Effekte bereits nach zwei bis drei Jahren wieder ab.
       Verschiedene Stromstärken und Frequenzen können diese Entwicklung
       verzögern, irgendwann lässt sich die Stimulation aber nicht mehr
       ausreichend anpassen.
       
       Trotz der Einschränkungen und Hürden sollte man nicht vergessen, dass die
       Elektrostimulation bereits jahrzehntelang das Leben von Schmerzpatienten
       verbessert. Und vielleicht schaffen es die flüssigen Injectrodes ja
       tatsächlich in ein paar Jahren in die Klinik und bieten neue Möglichkeiten
       für die Betroffenen.
       
       4 Sep 2020
       
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