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       # taz.de -- Fünf Jahre deutsche Willkommenskultur: Weltmeister der Verzerrung
       
       > Weltweit einmalig oder viel zu wenig? Die Bilanz der deutschen
       > Willkommenskultur für Geflüchtete ist nach fünf Jahren höchst ambivalent.
       
   IMG Bild: Ankunft von Flüchtlingen am Münchner Hauptbahnhof am 05. September 2015
       
       Es war 2019, als ein ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordneter beantragte, die
       UN-Kulturorganisation Unesco möge die deutsche „Willkommenskultur“ in ihre
       Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufnehmen. Die Liste
       umfasst bislang rund 500 Einträge, darunter die französische Küche oder den
       argentinischen Tango. Wie [1][die Deutschen 2015 die Flüchtlinge empfangen]
       hätten, sei „weltweit erstmalig und einmalig“, fand der Antragsteller.
       
       Dass die Deutschen sich nicht damit begnügen wollen, Mittelmaß zu sein, ist
       nichts Neues. Dass sich manche auch für die Weltmeister der Herzen in
       Sachen Flüchtlingshilfe halten, zeigt jedoch, wie sehr „2015“ vielen die
       Maßstäbe verrutschen ließ. Die verbreitete Unfähigkeit, die
       „Willkommenskultur“ richtig einzuschätzen, spiegelt auch deren höchst
       ambivalente Bilanz.
       
       Die Annahme, etwas „weltweit erstmalig und einmalig“ geleistet zu haben,
       ist eine groteske Verkennung der globalen Realität. Die allermeisten
       Flüchtlinge werden von armen Ländern beherbergt – unter großen Entbehrungen
       der Aufnahmegesellschaften, die nicht ansatzweise mit dem vergleichbar
       sind, was der oder die durchschnittliche Deutsche wegen der Flüchtlinge an
       Einschränkungen hinnehmen musste.
       
       Von den fast 80 Millionen Flüchtlingen auf der Welt sind heute rund 1,8
       Millionen in Deutschland. Das sind nicht wenige, stellt ein Land von dieser
       Wirtschaftskraft aber keineswegs vor unüberwindbare Probleme. Gleichwohl
       [2][sehen manche „2015“ bis heute als Anfang vom Ende] der Nation,
       fantasieren vom Untergang durch „Umvolkung“ und hassen Merkel als
       vermeintliche Flüchtlingskanzlerin deshalb von Herzen.
       
       Das wiederum ist eine groteske Verkennung [3][der deutschen Asylpolitik ab
       2015]. Denn seither ist Deutschland die treibende politische Kraft der
       Versuche, Flucht nach Mitteleuropa auf eine gering dosierte staatliche
       Umsiedlung, das Resettlement, zu beschränken. Ein [4][sich stetig
       verhärtender Kordon von Barrieren], der heute vom Sahel bis nach Kufstein
       reicht und selbstbestimmte Fluchtbewegungen unterbinden soll, zeigt
       mittlerweile Wirkung: Die 2018 von Horst Seehofer gegen Merkel erstrittene
       „Obergrenze“ von 180.000 bis 220.000 Neuaufnahmen pro Jahr, wurde schon vor
       Corona nicht einmal mehr zur Hälfte erreicht. Wie die Linken-Fraktion im
       Bundestag errechnet hat, nahm Deutschland unterm Strich (Asylanträge plus
       Familiennachzug plus Resettlement minus Abschiebungen minus Ausreisen) 2019
       nur 95.000 Menschen netto neu auf.
       
       Gleichwohl wäre es falsch, die vergangenen fünf Jahre als eine Zeit zu
       sehen, in der der Staat nur Anti-Flüchtlings-Politik betrieben hätte. Im
       Vergleich zu früheren Phasen, etwa dem Umgang mit den
       Jugoslawien-Flüchtlingen der 1990er, gab es einen Paradigmenwechsel. Damals
       war die Annahme: Die Menschen werden wieder gehen, zur Not schieben wir sie
       ab. Ein Irrtum, der sich später rächte. Viele blieben, doch niemand
       kümmerte sich darum, was aus ihnen werden sollte. Und so hatten viele
       Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Wenn sie welche fanden, reichte sie
       bisweilen kaum zum Leben und eine auskömmliche Rente.
       
       Dieser Fehler, immerhin, wiederholte sich nach 2015 nicht. Für einen
       erklecklichen Teil der Angekommenen wurde eine regelrechte
       Integrationsindustrie aufgebaut, die vor allem beim Weg in den Arbeitsmarkt
       behilflich ist: [5][Sprachkurse], Nach- und Anpassungsqualifizierung,
       Förderung der Anerkennung formeller und informeller Kompetenzen – es ist
       ein Instrumentarium, von denen frühere Neuankömmlinge nur hätten träumen
       können.
       
       Und so haben fünf Jahre nach ihrer Ankunft zwei Drittel der 18- bis
       64-jährigen Geflüchteten eine Erwerbstätigkeit aufgenommen. Über 55.000
       Menschen aus den acht wichtigsten Asyl-Herkunftsländern absolvieren eine
       Ausbildung, etwa 270.000 besuchen eine Schule, knapp 20.000 studieren. Es
       ist eine kaum zu überschätzende Erfolgsgeschichte, erst recht in einem
       Land, das auf neue Arbeitskräfte angewiesen ist wie kaum ein zweites in
       Europa. [6][Drei Jahre nach Ankunft fühlen sich insgesamt 74 Prozent der
       Geflüchteten] „stark“ oder „sehr stark“ willkommen, nur insgesamt 6 Prozent
       „kaum“ oder „gar nicht“.
       
       Würdigen können das oft die am Wenigsten, die sehr viel dazu beigetragen
       haben: Solidaritätsgruppen. Ende 2017 stellte das Allensbach-Institut fest,
       dass 11 Prozent der über 16-Jährigen in Deutschland sich aktiv in der
       Flüchtlingshilfe engagieren. Das Sozialwissenschaftliche Institut der
       Evangelischen Kirche in Deutschland hat untersucht, wie sich dieser Wert
       seither verändert hat. Die Zahlen werden erst in zehn Tagen veröffentlicht,
       doch wie zu hören ist, sind sie immer noch sehr hoch. Tatsächlich gibt es
       bis heute in fast jeder Kleinstadt – auch im Osten –
       Flüchtlingsinitiativen. Sie sind ein wichtiges gesellschaftliches Korrektiv
       gegen den Rechtsruck und Populismus, unempfänglich für Verhetzung durch
       ihre persönliche Beziehungen zu den Flüchtlingen.
       
       Denn viele der 2015 Angekommenen stehen heute in einem freundschaftlichen
       Verhältnis zu den HelferInnen von damals. Ihre Unterstützung aber brauchen
       sie nicht mehr. In vielen der einstigen Willkommensgruppen hat das zu einer
       Fokusverschiebung geführt: Sie beschäftigen sich heute oft mit der Lage von
       Flüchtlingen an anderen Orten, vor allem im Mittelmeer und an den
       EU-Außengrenzen, etwa im Rahmen des „Seebrücke“-Netzwerks.
       
       Auch dort leistet die Zivilgesellschaft Beeindruckendes, nicht nur in der
       Seenotrettung. Trotzdem kann die Lage in der Region einem durchaus die
       Laune verderben. Geradezu fixiert schauen viele der HelferInnen deshalb
       heute [7][auf die Toten im Meer], die Internierten in den Lagern, die
       Asylrechtsverschärfungen, die Abschiebungen. Die eigenen, ermutigenden
       Leistungen vermögen sie darüber oft kaum noch wahrzunehmen. Auch dies ist
       eine Verkennung der Realität.
       
       4 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Fuenf-Jahre-Wir-schaffen-das/!5704766
   DIR [2] /Deutsche-Fluechtlingspolitik/!5706693
   DIR [3] /Deutsche-Fluechtlingspolitik/!5699574
   DIR [4] /EU-Fluechtlingspolitik-in-Tunesien/!5703464
   DIR [5] /Gefluechtete-in-Corona-Krise/!5685897
   DIR [6] https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Kurzanalysen/kurzanalyse1-2020_iab-bamf-soep-befragung-sprache.pdf?__blob=publicationFile&v=6#page=11
   DIR [7] /Migration-und-Tod-in-Zeiten-von-Corona/!5699393
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
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