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       # taz.de -- LGBTI in der Öffentlichkeit: Küssen nur bewaffnet
       
       > Mein Klappmesser habe ich beim Knutschen immer dabei. Unbeschwerte
       > Liebkosungen gibt es für mich nur an Orten, wo sich viele Queers
       > aufhalten.
       
   IMG Bild: „Ich würde mich lieber in einen Kuss versenken und dabei alles um mich herum vergessen“
       
       Nur ein paar wenige Orte gibt es in der Stadt, an denen ich unbewaffnet
       küssen würde. Orte, an denen ich mein Klappmesser in der Tasche lasse, wenn
       ich jemanden küsse, der zufällig dasselbe Geschlecht hat wie ich. Mein
       Klappmesser ist nicht aus Metall, sondern aus scharfen Worten, aus
       schlagfertigen Comebacks und souveräner Arroganz.
       
       Ich trage es selbst in einer der liberalsten Städte der Welt, dabei wäre
       ich lieber unbewaffnet. Würde mich lieber in einen Kuss versenken und dabei
       alles um mich herum vergessen, anstatt das Klappmesser in der Faust zu
       haben, [1][bereit für einen Spruch von der Seite, der alles kaputt macht.]
       
       Nicht alle, aber viele von uns LGBTI haben das Privileg und den Fluch, dass
       wir in der Lage sind, uns zu verstecken. Uns zu verkleiden, um weniger
       selten zu den Waffen greifen zu müssen. Den eigenen Gang ein bisschen
       überwachen, die Stimme und Gestik micromanagen, Hobbys und Kleidung den
       Erwartungen anpassen. Haarlänge und -mode den geschlechtlichen Erwartungen
       anpassen. Namen und Pronomen den Erwartungen der anderen anpassen. Das
       Privatleben geheim halten. Und schon kann man problemlos durchs Leben
       gehen.
       
       Eine aktuelle Umfrage der Uni Bielefeld hat ergeben, [2][dass ein Drittel
       der LGBTI am Arbeitsplatz einen Teil ihrer Identität auf eine dieser Arten
       verstecken] – vulgo: ungeoutet sind. Ich höre schon die eine und den
       anderen sagen, dass das doch ein Fortschritt sei, da immerhin zwei Drittel
       offen mit ihrer geschlechtlichen oder sexuellen Identität umgingen. Ducken
       Sie sich vor meinem Klappmesser! Ich finde das leider keinen Fortschritt,
       weil es nämlich heißt, dass sogar unter den LGBTI, die in der
       Selbstdefinition gefestigt genug sind, um für eine sozialwissenschaftliche
       Studie überhaupt erreichbar zu sein, immer noch ein Drittel [3][keine Lust
       hat, am Arbeitsplatz] – wo man fast die Hälfte seiner wachen Stunden
       verbringt – zu sein, wer sie sind.
       
       Und, wessen Schuld ist das nun? (Ja, doch, ich finde „Schuld“ ein sehr
       produktives Konzept). Die der Queers? Sind wir dafür verantwortlich, mehr
       Selbstbewusstsein zu haben? Weil 2020 ist und wir die Ehe für alle und
       Antidiskriminierungsgesetze haben? Selbst als LGBTI-Person mit
       Selbstbewusstsein kommt immer wieder der Moment, wo es schlicht einfacher
       ist, nichts zu sagen, mitzumachen, so zu sein, wie es angenehmer für die
       anderen ist. Nicht alle haben ein Klappmesser, und manche*r wird auch müde,
       es einzusetzen und immer wieder zu schleifen.
       
       Ich persönlich fühle mich am wohlsten mit mir, wenn ich mir sicher sein
       kann, dass auch andere für mich zu den Waffen greifen würden. Deswegen sind
       die paar Orte, wo ich selbstvergessen in der Öffentlichkeit küssen kann,
       auch Orte, wo sich viele Queers aufhalten. Fragen Sie sich doch mal, ob Ihr
       Arbeitsplatz, Ihre Straße, Ihr Verein oder Ihre Gemeinde so ein Ort ist.
       Und wenn nicht, wie Sie das ändern können.
       
       4 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /LGBTI-Rechte-in-Europa/!5593047
   DIR [2] https://www.queer.de/detail.php?article_id=36958
   DIR [3] /Neue-LGBTIQ-Wirtschaftsvereingung/!5609666
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Weissenburger
       
       ## TAGS
       
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