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       # taz.de -- Studie über Kinderzufriedenheit: Mehr brüllen
       
       > Laut Unicef sind Deutschlands Kinder unzufriedener als in Nachbarländern.
       > Das Glück der Kleinen steht zu selten im Mittelpunkt, meint unser Autor.
       
   IMG Bild: Von Erwachsenen wird für Kinder zu wenig gebrüllt
       
       Ein unglückliches Kind, das ist wie ein Sommergewitter – oder sollte es
       doch sein: eines, das aus dem Nichts kommt und heftig einschlägt. Nach dem
       Sturm ist die Luft rein, die Tränchen verdampfen, und es gibt ein großes
       Eis.
       
       Als ich einst meine älteren Kinder fragte, wie sie es fänden, dass meine
       neue Partnerin und ich ein Baby bekämen, da war die Antwort: „Mittel.“ Das
       war ein cooler Ausdruck von Unglück – weniger über das beziehungsweise die,
       die da neu zu uns in unsere verwürfelte Familie kam; sondern über die
       Vergangenheit, die gescheiterte Beziehung, deren Leidtragende nicht zuletzt
       eben auch sie waren. Meine älteren Kinder waren unglücklich, weil ich sie
       in Situationen brachte, die sie sich nicht ausgesucht, auf die sie keinen
       Einfluss hatten. Und meine Aufgabe als Erwachsener war es, zu meinen
       Entscheidungen zu stehen und durch meine Handlungen zu beweisen, dass ich
       sie immer mitbedacht hatte. Um so ihr Unglück zugleich ernst zu nehmen und
       es aufzuheben.
       
       Wenn Kinder über einen längeren Zeitraum unglücklich sind, dann sind dafür
       immer Erwachsene verantwortlich, nie andere Kinder. [1][Das Hilfswerk
       Unicef hat nun an die Regierungen von Industrieländern appelliert], in
       ihrer Politik stärker auf das Wohlergehen von Kindern zu achten. Diese
       Ausrichtung überrascht und befremdet vielleicht sogar an Tagen, in denen
       uns das Bild des zweijährigen Alan Kurdi vor Augen steht, des syrischen
       Jungen im roten Hemdchen, dessen Leichnam am 2. September vor fünf Jahren
       an der türkischen Mittelmeerküste aufgefunden wurde. Ist dagegen nicht
       jedes westliche Kindsunglück schlicht eine Form der Wohlstandverwahrlosung?
       
       Vor zwei Tagen auch [2][war im österreichischen Standard eine Kolumne] zu
       lesen, die in ihrem Tonfall durchaus nicht allein dasteht: Unter dem Titel
       „Die Patchwork-Hölle“ geht es darin um verzogene Kinder, denen man
       „großräumig“ ausweichen solle. Schuld an den sich präpotent betragenden
       Blagen seien elterliche Schuldkomplexe, die den Kleinen „unendlich viel
       Macht“ verliehen: „Pommes frites zu jeder Tages- und Nachtzeit – sonst
       drohen Rocco und Lea-Minou mit der Kündigung ihrer ewigen Liebe. Sonst wird
       im Wirtshaus mit den Fäusten auf den Klinkerboden getrommelt und eine
       Stunde lang durchgebrüllt.“
       
       ## Befreit von dauerhaftem Unglück
       
       Mich stört es eigentlich nie, wenn Kinder brüllen. Denn erstens ist das
       Brüllen zumindest ein Hinweis, meist ein nicht anders artikulierbarer, dass
       etwas nicht stimmt. Und zweitens wird von Erwachsenenseite für Kinder ja
       viel zu wenig gebrüllt. Die Unterstützung von Kindern und ihren Familien in
       den Industrieländern während der Covid-19-Pandemie sei erschreckend
       unzureichend, sagt Unicef.
       
       Kürzlich schrieb uns ein Leser, wie er eigentlich von ihm betreuten
       Jugendlichen die Gefährlichkeit einer Ansteckung mit dem Covid-19-Virus
       vermitteln solle, wenn sie live übertragen und bombastisch beworben zusehen
       könnten, wie in Fußballstadien Dutzende von Menschen ohne Mundschutz ihre
       Aerosole austauschten.
       
       Man soll sich durch schmissige Kolumnen und Sonntagsreden nicht täuschen
       lassen: In Deutschland steht nur eine Gruppe hinsichtlich der tatsächlichen
       Fürsorge der Gesellschaft noch hinter den Kindern an allerletzter Stelle –
       und zwar [3][die Kinder der Armen und Rechtlosen]. [4][Das zeigt sich an
       der Sozialpolitik], [5][an der Schulpolitik], an der Verkehrspolitik, in
       der Kriminalitätsbekämpfung. Die Regel ist: Es muss immer erst etwas
       Grauenvolles passieren, damit sich vielleicht etwas bewegt. Eine erwachsene
       Gesellschaft würde das Kind in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellen,
       ohne darüber kindisch zu werden. Es ist nämlich nicht unleistbar, ein Kind
       aus dauerhaftem Unglück zu befreien. Aber mehr als ein Eis braucht es halt
       schon.
       
       4 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/presse/2020/report-kindeswohl-in-reichen-laendern-in-gefahr/224250
   DIR [2] https://www.derstandard.de/story/2000119299345/die-patchwork-hoelle
   DIR [3] https://www.migazin.de/2020/09/03/bericht-situation-von-fluechtlingskindern-in-europa-schlechter/
   DIR [4] https://www.deutschlandfunk.de/kinderarmut-in-deutschland-kinder-ohne-lebensmut-lassen.680.de.html?dram%3Aarticle_id=481049
   DIR [5] https://www.tagesspiegel.de/berlin/teststellen-sind-nach-schulbeginn-ueberlastet-berliner-lehrer-und-erzieher-muessen-auf-corona-tests-warten/26104548.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
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