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       # taz.de -- UN-Sondertribunal zum Mord an Hariri: Ein folgenloses Urteil
       
       > 15 Jahre nach dem Mord an Libanons Ex-Premier Hariri: Ein
       > UN-Sondertribunal spricht nur einen der vier angeklagten Männer schuldig.
       
   IMG Bild: Das UN-Sondertribunal für den Libanon (STL) am Dienstag in Leidschendam
       
       Berlin taz | Die Explosion erschütterte ganz Beirut. Fensterscheiben
       barsten, Teile zerfetzter Menschen flogen auf die umliegenden Dächer,
       schwarze Rauchwolken stiegen in den Himmel. Zurück blieben verkohlte
       Autowracks und ein zerstörtes Hotel an der Küstenpromenade der
       libanesischen Hauptstadt.
       
       Die Rede ist nicht von der jüngsten Explosion [1][auf Beiruts
       Hafengelände], sondern von dem folgenreichsten Bombenanschlag in der
       Geschichte des Staates Libanon: dem Selbstmordattentat vom 14. Februar
       2005. Mehr als 200 Menschen wurden damals verletzt, 22 getötet – unter
       ihnen der Milliardär und ehemalige Ministerpräsident Rafik Hariri.
       
       Mehr als 15 Jahre später hat das UN-Sondertribunal für den Libanon (STL) am
       Dienstag das lang erwartete Urteil gefällt. Für eine direkte Täterschaft
       der Schiitenmiliz Hisbollah oder des Nachbarlandes Syrien sahen die
       RichterInnen keinen Beleg. Ein Hisbollah-Mitglied sprachen sie schuldig:
       Der Libanese Salim Ajjasch sei „Mittäter“ des Anschlages.
       
       Die Beteiligung von drei weiteren Männern, die in dem Prozess der
       Komplizenschaft angeklagt waren, könne allerdings „nicht zweifelsfrei
       bewiesen“ werden, hieß es in der über Stunden dauernden Verlesung des
       Urteils. Das Strafmaß für Ajjasch wurde am Dienstag noch nicht
       bekanntgegeben.
       
       Der Hariri-Prozess im niederländischen Leidschendam war eine Sensation –
       nicht nur für den Libanon, auch für die internationale Staatengemeinschaft.
       Nie zuvor war ein spezielles UN-Strafgericht eingerichtet worden, um einen
       politischen Mord aufzuklären. Viele LibanesInnen und politische
       BeobachterInnen verbanden große Hoffnungen mit dem STL.
       
       ## Hariri verkörperte den Wiederaufbau wie kein anderer
       
       „Es stellt einen Präzedenzfall der Rechenschaftspflicht innerhalb einer
       politischen Kultur dar, in der ‚Amnestie‘ und eine stammesähnliche
       Versöhnung vorherrschend sind“, sagt der libanesische Analyst Lokman Slim
       gegenüber der taz. Auch wenn das Strafgericht nicht die politische
       Verantwortung von mutmaßlichen Strippenziehern wie der Hisbollah, dem Iran
       oder des syrischen Regimes zurückverfolgen konnte, habe das STL dazu
       beigetragen, gängige Praktiken der Straflosigkeit zu durchbrechen.
       
       Das Verfahren war besonders in den Anfangsjahren politisch hochsensibel.
       Rafik Hariri, Vater des 2019 als Ministerpräsident zurückgetretenen Saad
       Hariri, war zum Zeitpunkt seiner Ermordung Libanons prominentester
       sunnitischer Politiker.
       
       Nach dem Bürgerkrieg hatte der Geschäftsmann in den neunziger Jahren Beirut
       wieder aufgebaut. Zwar bereicherte er sich dabei maßlos selbst, doch wie
       kein anderer verkörperte Hariri den Wiederaufbau des zerstörten Landes. Mit
       guten Kontakten in die USA sowie in die Golfmonarchien stand Hariri für
       einen prowestlichen Kurs. Von seinen Widersachern wurde er als Gefahr für
       den Einfluss des Irans und Syriens in dem kleinen Mittelmeerland gesehen.
       
       Schnell fiel nach dem Attentat der Verdacht auf die Hisbollah, den
       Handlanger Teherans im Libanon, sowie auf ihre Verbündeten in Damaskus, das
       syrische Assad-Regime, das damals noch seine Truppen im Libanon stationiert
       hatte. Es folgten Massenproteste gegen Syriens Einflussnahme. Die
       sogenannte Zedernrevolution, in deren Folge sich die syrische Armee aus dem
       Libanon zurückzog, nahm ihren Lauf.
       
       Vor diesem Hintergrund riefen die UN gemeinsam mit dem Libanon eine
       Untersuchungskommission und später das STL ins Leben, um den Mord an Hariri
       aufzuklären. Die Ermittlungen, die zeitweise von dem Deutschen Detlev
       Mehlis geführt wurden, waren von Pannen geplagt. Mindestens ein mit den
       Ermittlungen befasster Mitarbeiter der libanesischen Sicherheitsbehörden
       wurde ermordet. Der Prozess begann schließlich erst im Jahr 2014.
       
       Nadim Houry von der Denkfabrik Arab Reform Initiative zog am Dienstag ein
       ernüchterndes Fazit: „Das STL ist an dem gescheitert, was sein Hauptziel
       hätte sein müssen: einen Schock für das System der Straflosigkeit zu
       schaffen, das den Libanon regiert hat“, [2][schrieb er.]
       
       Einer der schärfsten Kritiker des STL, der Analyst Michael Young vom
       Carnegie Middle East Center, kritisiert sogar, dass das Tribunal der
       internationalen Strafgerichtsbarkeit einen Bärendienst erwiesen habe, werde
       es als Negativbeispiel für künftige Tribunale doch abschreckende Wirkung
       entfalten.
       
       ## Alle vier Männer sind auf der Flucht
       
       Dem Mehlis-Nachfolger Serge Brammertz, heute Chefankläger der
       Nachfolgestrukturen der UN-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda, wirft
       Young vor, politischem Druck nachgegeben, das Verfahren in die Länge
       gezogen zu haben und an einer tatsächlichen Aufarbeitung nicht wirklich
       interessiert gewesen zu sein.
       
       Die Untersuchung und der Prozess kosteten rund eine Milliarde US-Dollar,
       von denen der Libanon knapp die Hälfte bezahlte, während andere Länder,
       darunter Deutschland, den Rest übernahmen.
       
       „Fast eine Milliarde Dollar wurde in eine 15-jährige Untersuchung und
       Gerichtsverhandlung gesteckt, die nur niedrigrangigen Funktionären
       nachging“, kritisiert auch Habib Nassar von der Nichtregierungsorganisation
       Impunity Watch.
       
       „Dabei hatte das Gericht die volle Zuständigkeit und Kapazität, die
       Befehlskette zu untersuchen und denjenigen nachzugehen, die das Attentat
       angeordnet und angestiftet hatten.“ Es sei, sagt Nassar, als seien die
       Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem Schuldspruch des
       Chefs der Berliner Polizeistation zu Ende gegangen.
       
       Lokman Slim kann dem aufwendigen Prozess dennoch Positives abgewinnen. Dass
       sich das STL nicht an die Strippenzieher herangewagt habe, sei zwar
       enttäuschend, sei aber Teil der Spielregeln gewesen. Doch habe der
       Hariri-Prozess im Libanon wichtige Debatten angestoßen.
       
       „Es ist kein Zufall, dass viele Libanesen heute eine internationale
       Untersuchung in Bezug auf die Mega-Explosion des Hafens von Beirut
       fordern“, sagt er. „Wäre eine solche Forderung ohne den Präzedenzfall, den
       die internationale Beteiligung im Hariri-Mordfall geschaffen hat, denkbar?“
       
       Direkte Folgen für den Verurteilten wird das Urteil vom Dienstag nicht
       haben. Wie die anderen drei Angeklagten ist der per internationalem
       Haftbefehl gesuchte Ajjasch flüchtig. Wo sich die vier Männer aufhalten und
       ob sie überhaupt noch am Leben sind, ist nicht bekannt.
       
       18 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nach-der-Explosion-in-Beirut/!5701659
   DIR [2] https://twitter.com/nadimhoury/status/1295605943741419520?s=20
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jannis Hagmann
       
       ## TAGS
       
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