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       # taz.de -- taz-Sommerserie „Sommer vorm Balkon“: Neu-Jerusalem ist in Staaken
       
       > Auf den Spuren seiner Kindheit erkundet unser Autor gemeinsam mit einem
       > Denkmalschützer eine ganz besondere Siedlung im Westen Spandaus.
       
   IMG Bild: Seit 1996 steht die Siedlung Neu-Jerusalem in Staaken unter Denkmalschutz
       
       Staaken ist ein Stück Berlin, wohin es BewohnerInnen der Innenstadtbezirke
       selten verschlägt. Selbst schuld. Denn man könnte Neues entdecken, das –
       okay, zugegeben – Altes ist. Aber der Reihe nach.
       
       Obwohl von Geburt Mecklenburger, kenne ich Staaken seit Kindertagen. Die
       Schwester meiner Mutter zog samt Familie im November 1969 dorthin. Meine
       Tante lebt bis heute dort – ich sage immer scherzhaft: in der letzten
       Straße Berlins, sie heißt tatsächlich „An der Spitze“. Hier läuft alles auf
       Brandenburg zu, das nur ein paar Schritte weiter beginnt.
       
       Der historische Teil Staakens um das alte Dorf, erstmals 1273 urkundlich
       erwähnt, mit seiner kleinen Kirche ist im Norden und Süden durch
       Einfamilienhaussiedlungen und die sogenannte Gartenstadt geprägt. Der
       östliche Teil und auch Neu-Staaken besteht überwiegend aus Großsiedlungen à
       la westdeutsche Platte – das lässt sich sehr schön (na ja: schön) bei der
       Hinfahrt mit dem Bus studieren. Der M49er fährt vom S-Bahnhof ICC/Messe
       Nord gefühlt ewig (es sind rund 25 Minuten) die Heerstraße entlang,
       Hochhaus folgt auf Hochhaus.
       
       In den Sommerferien besuchte ich ein paar Mal als Kind meine Tante. Man
       ging natürlich spazieren. Der Radius war klein. Das Staaken meine
       Kindertage war in den 1970ern und 1980ern ein Dorf für sich und gehörte zum
       Bezirk Potsdam, also zur DDR. Ironie der Geschichte: Der Ostteil Staakens
       gehörte bis zum Mauerfall zu Spandau und damit zu West-Berlin. Einmal sind
       wir mit der S-Bahn zum Alexanderplatz gefahren, ein weiter Weg: Wir mussten
       ganz West-Berlin umfahren; mitten durch die West-City ging ja nicht.
       
       ## „So hat doch nicht die DDR gebaut“
       
       Bei den Spaziergängen damals sind mir stets die vielen zweistöckigen
       Doppelhäuser – in meiner Erinnerung waren sie weiß – aufgefallen, die alle
       gleich aussahen. Sie standen entlang der Heerstraße, die damals als
       Transitstrecke West-Berlin und Hamburg verband; ein paar Hundert Meter
       weiter befand sich der Grenzübergang. Die seltsamen Häuser mit den großen
       Gärten aber konnte man umrunden und begutachten: Sie sahen merkwürdig
       kastenförmig aus – kubisch eben – und ganz anders als alles andere, was ich
       kannte. So hat doch nicht die DDR gebaut, dachte ich damals.
       
       Dann sah ich Tante und Staaken länger nicht wieder. Die DDR ging zu Ende.
       Ich zog 1992 des Studiums wegen nach Berlin und besuchte ein paar Jahre
       später wieder meine Verwandten in West-Staaken (das nach 40 Jahre Osten nun
       zum Westen gehörte). Die Häuser standen immer noch da, waren schrecklich
       grau und sahen oft ziemlich heruntergekommen aus. In der Summe ein
       trauriger Anblick von – sagen wir – morbidem Charme.
       
       Dass es sich hier um etwas historisch Besonderes handelt, um ein
       Baudenkmal, wurde mir erst bewusst, als vor gar nicht allzu langer Zeit die
       ersten Häuser der Siedlung plötzlich saniert wurden und mit frischer Farbe
       dastanden. In Weiß und – Rot! Rot? Das warf Fragen auf. Tante und Onkel
       hatten für diese Farbwahl keine schlüssige Antwort. Gut, dass es diese
       Sommerserie gibt.
       
       Leider kann man keins der Häuser besichtigen. Dabei wäre genau die
       Innenansicht eines solchen Baudenkmals erstens erhellend. Und zweitens wäre
       – aber das ist nur ein persönlicher Wunsch – ein kleines Museum mit Daten
       und Fakten und historischen Fotos aus den letzten 100 Jahren in so einer
       Haushälfte – einfach genial.
       
       Eine Haushälfte hat sich ein Architekt, der unbenannt bleiben möchte,
       gekauft und viel Liebe und Fachwissen hineingesteckt, um sie so gut wie
       möglich zu restaurieren. Diese Haushälfte steht leer, man kann sie mieten.
       Für die taz gibt es eine kleine Führung, das aber ist für die Allgemeinheit
       leider nicht möglich.
       
       Die Schlüssel klimpern sachte in seiner Hand, eine gewisse Vorfreude ist
       Dr. Dieter Nellessen anzumerken, als er die Tür zur Heerstraße 653 B
       aufschließt. Der Besitzer war so freundlich, uns ohne sein Beisein ins Haus
       zu lassen. „Das hier ist originalgetreu restauriert“, sagt Nellessen quasi
       als Ouvertüre seiner Erläuterungen. Er arbeitet seit 25 Jahren als Leiter
       der Untereren Denkmalschutzbehörde von Spandau und hat den Prozess der
       Baudenkmal-Werdung begleitet. Es ist zu spüren: Nellessen liegt etwas an
       dieser Siedlung, die den Namen Neu-Jerusalem trägt.
       
       Warum die Siedlung so heißt, weiß weder Nellessen noch Wikipedia oder sonst
       wer. Der oberste Denkmalpfleger Spandaus kann sich aber vorstellen, „dass
       es mit den kubischen Baukörpern ohne sichtbares Dach zu tun hat. Diese Art
       des Bauens kannte man bis dahin nur aus Nordafrika.“
       
       ## Erinnerung an Israel
       
       Früher stellte sich die Frage nicht. Zu DDR-Zeiten wurde die Siedlung gar
       nicht benannt, stand einfach nur da. Erst nach der Wende kam der alte Name
       wieder auf. Und ich dachte, na klar, das passt: In Israel gibt es so viele
       weiße Häuser im Bauhausstil.
       
       Innen findet sich die kubische Bauweise des Äußeren wieder, klar. Allein
       das Treppenhaus – dunkelgrünes Linoleum (neu), weiß lackiertes Holzgeländer
       mit schwarzem Handlauf (alt) – ist eine Wucht. „Im Inneren haben wir den
       Besitzern relativ freie Hand gelassen“, sagt Nellessen und verweist auf die
       unerwartete Großzügigkeit im unteren Geschoss.
       
       Hier fehlt eine Wand, die es früher mal gab, zum Raum dazu kam ein Anbau,
       der allen Besitzern zugestanden wird. Viele der Anbauten stammen aus
       DDR-Zeiten: „Solche baulichen Veränderungen genießen Bestandsschutz.“ Und
       das Fenster zum Garten ist bodentief und viel breiter als die anderen
       originalen, eher kleinen Holzfenster (mit aufgearbeiteten originalen
       Griffen). Die moderne Küche befindet sich heute an anderer Stelle als einst
       vorgesehen. „Das Kubische prägt die Siedlung und macht das neue Bauen aus“,
       erklärt Nellessen, „da ist relativ egal, wie es im Innern aussieht.“
       
       Eine Etage höher gibt es zwei separate Zimmer, wieder gleich groß und
       geschnitten, und ein modernes, neu eingebautes Bad, das sich vom Stil her
       gut einfügt – dasselbe oben noch mal, allerdings sind hier die Fenster
       anders gestaltet: in einem Raum über Eck, was viel Licht hinein lässt. Und
       im anderen Zimmer unspektakulär ein modernes: Hier hatte es als einzigen
       Raum in den völlig identisch gebauten Häusern der Siedlung früher gar kein
       Fenster gegeben – warum, ist bis heute unklar.
       
       Nach der Führung durchs Haus, das über einen großen Garten – alle
       Grundstücke sind 800 bis 1.000 Quadratmeter groß – mit Terrasse und
       etlichen Hochbeeten verfügt, ist klar: In so einem perfekt restaurierten
       Baudenkmal ließe sich heute sicher gut leben. Aber wer hat hier denn früher
       gelebt?
       
       Die Siedlung Neu-Jerusalem, insgesamt 21 baugleiche Doppelhäuser, elf
       nördlich, zehn südlich der Heerstraße, und ein Einzelhaus entstand in den
       Jahren von 1923 bis 1925, erzählt Dieter Nellessen. „Sie wurde für die
       Angehörigen der Verkehrsfliegerschule auf dem nahegelegenen Flughafen
       Staaken von der Deutschen Gartenstadt Gesellschaft gebaut.“ Die gemauerten
       Häuser trugen Klinker und Putz. Als Architekt fungierte Erwin Gutkind, der
       etliche überzeugende Beispiele der klassischen Moderne entwarf und
       umsetzte. Die Gebäude waren für einfache Leute bestimmt und mit kleinem
       Stall, zwei Kellerräumen und großem Garten für die Selbstversorgung
       konzipiert.
       
       Klinker und Putz: Die kubischen Häuser von Gutkind hatten ein besonderes
       Merkmal, erzählt Nellessen. „Er hat Ziegel und Putz miteinander kombiniert
       und das Ganze umgedreht. Das Schwere, also der Ziegel, kam nach oben. Das
       Leichte, der Putz, nach unten.“ Doch die Ziegel waren nicht frostsicher:
       „Es wurde damals billig gebaut, sie sind nach den ersten Wintern kaputt
       gefroren, und wohl schon Ende der 1920er Jahre wurde auch der obere Teil
       der Häuser verputzt.“
       
       Neben Neu-Jerusalem stammen Wohnsiedlungen in Lichtenberg und Reinickendorf
       von Gutkind. 1886 in Berlin geboren, emigrierte er 1933 nach Paris,
       siedelte 1935 nach London über und verlegte seine Tätigkeit nach
       Großbritannien, arbeitete dort jedoch nicht mehr als Architekt, sondern als
       Stadtplaner. Mit der Berufung zum Professor verließ Gutkind im Jahre 1957
       London und zog nach Philadelphia, wo er 1968 verstarb – im Jahr seines
       Todes bekam Gutkind den Berliner Kunstpreis für Baukunst verliehen. Heute
       erinnert eine Gedenktafel in der Wohnanlage Sonnenhof in Lichtenberg, 2003
       enthüllt, an ihn.
       
       ## „Denkmalschutz mit den Leuten machen“
       
       Seine Siedlung in Staaken wurde erst 1996 unter Denkmalschutz gestellt. In
       der Begründung dazu hieß es: „Die ursprüngliche Gestaltung der Fassaden mit
       einem Kontrast aus weiß verputzter Sockelzone und den dunkel verklinkerten
       Obergeschossen war wichtiger Bestandteil der plastischen und expressiven
       Wirkung der Häuser.“ Nun, diese Wirkung haben die restaurierten Häuser
       wieder – derzeit rund die Hälfte –, denn sie tragen wie früher ein dunkles
       ziegelsteinartiges Rot: nur eben per Farbanstrich. Das Rot betont die
       kubische Form. „Die Einheitlichkeit der Siedlung, deren Aussagekraft im
       Stile der neuen Sachlichkeit soll erhalten bleiben“, sagt Nellessen.
       
       Wobei Rot nicht gleich Rot ist, das sieht man bei einem Spaziergang durch
       die Siedlung, auch der Laie. Die Rottöne variieren, was vor allem an der
       Qualität der Farbe liegt, wie der Fachmann erklärt. Nur: Dem Denkmalschutz
       sind da die Hände gebunden. „Das Konfliktpotenzial war und ist relativ
       hoch“, sagt Nellessen vorsichtig formulierend. Die Häuser sind halt alle in
       Privatbesitz und wurden einzeln verkauft, nachdem um das Jahr 2003 herum
       eine Immobilienfirma die Siedlung gekauft hatte – „das lief aber nicht so
       gut“.
       
       Nach dem Versuch, die Siedlung im Gesamten an einen Investor zu verkaufen,
       wurden die Häuser einzeln an Privatpersonen veräußert. Das hatte der Bezirk
       zum Anlass genommen, ein Denkmalpflegekonzept zu erarbeiten – mit moderaten
       Denkmalauflagen. Förderungen gibt es für die Hausbesitzer indirekt über die
       Möglichkeiten der Steuerabschreibung, direkt über die Fördermittel für
       denkmalpflegerischen Mehraufwand.
       
       „Denkmalschutz mit den Leuten machen“, ist ein Leitsatz von Nellessen,
       „nicht gegen sie.“ Zwingen will er folglich niemanden. Außer die
       Bausubstanz wäre gefährdet. Aber, räumt Nellesen zum Ende der Führung ein:
       „Eine durchsanierte Siedlung werden wir wohl nicht erleben.“
       
       29 Aug 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Hergeth
       
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