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       # taz.de -- Buch „Crowds“ zu Fußball im Stadion: Mythische Leerstelle
       
       > Hans Ulrich Gumbrecht schwärmt in seinem neuen Buch „Crowds“ vom
       > Stadionerlebnis, das so schnell auch nicht wiederkommen wird.
       
   IMG Bild: Das neue Normal: Darmstädter Arena in desolatem und also sinnbildlichem Zustand
       
       Die Stadien bleiben in Deutschland bis Oktober leer. Für den gemeinen Fan
       heißt es weiterhin: Wir müssen draußen bleiben. Das wurde am Donnerstag auf
       dem sogenannten Bund-Länder-Gipfel in Berlin beschlossen. Das ist eine
       Nachricht, die bestimmt auch Sportfreund Hans Ulrich Gumbrecht irgendwie
       betrüblich finden wird. Er hat kürzlich ein Essay vorgelegt mit dem
       knackigen Titel [1][„Crowds“], das sich wie eine nostalgische
       Liebeserklärung an das prickelnd mythische Stadionerlebnis von einst
       liest.
       
       Ja, es war einmal, da grölten, schrien, litten und feierten Zehntausende
       auf den Rängen, jetzt kann man sich eine künstliche Stadionatmo beim
       Fußballgucken auf Sky dazuschalten. Aber bevor wir uns mit dem Büchlein des
       Literaturwissenschaftlers beschäftigen, der bis 2018 an der
       Stanford-Universität in Kalifornien Komparatistik gelehrt hat, vertiefen
       wir uns – sorry – noch einen Moment lang in das Zahlenwerk, das als
       Letztbegründung für die Asepsis in den Arenen herhalten muss: also für das
       Schweigen der Crowd.
       
       Wir schauen auf die Zahlen des Robert-Koch-Instituts und lesen, dass seit
       Beginn der Pandemie lediglich drei Jugendliche unter 19 am Coronavirus
       gestorben sind. In der Gruppe der 20- bis 39-Jährigen gab es hierzulande 33
       Tote. Die Zahl der Tests auf das Virus ist von 127.457 (Kalenderwoche 11)
       und 340.986 (KW 23) auf 987.423 (KW 34) angestiegen, die Positivrate, also
       der Anteil jener Menschen, die das Virus in sich trugen, liegt [2][im
       Schnitt seit neun Wochen bei 0,81 Prozent]. Die Kurve der Todesfälle
       verzeichnet im März und April einen steilen Anstieg, seit Ende Juni
       verläuft sie allerdings extrem flach und scheint sich asymptotisch der
       X-Achse anzunähern.
       
       Zuletzt starben hierzulande im Schnitt vier bis fünf meist ältere Menschen
       täglich an Covid-19. Warum wir das noch einmal aufzählen? Weil sich die
       präventiven Maßnahmen auf die Realität des Pandemiegeschehens beziehen
       sollten. Weil die Absolutheit des Stadionverbots eine statistische
       Begründung sucht, die sich aus den Zahlen des RKI so nicht herauslesen
       lässt. Die Zahlen sprächen vielmehr für eine kluge, abgestufte Lockerung –
       und Lösungen mit stark regionalem Bezug. Denn während in Bayern, NRW oder
       Baden-Württemberg zumindest die Rate der positiv Getesteten – nicht zu
       verwechseln mit Erkrankten – noch relativ hoch ist, hat sich die Pandemie
       im Osten des Landes weitgehend beruhigt.
       
       ## „Hochgefühl ohne Inhalt“
       
       Man geht sicherlich nicht fehl, von einem politischen
       Präventiv-Fundamentalismus zu sprechen, von einem geradezu obsessiven
       Virus-Monitoring, aber so weit geht Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Buch
       nicht, lediglich eine stille Trauer, ein Bedauern ist zu spüren ob der
       Stilllegung des Zuschauersports. Was verlieren wir, fragt Gumbrecht, wenn
       es keine vollen Stadien mehr gibt? In erster Linie, so seine Antwort, „ein
       physisches Hochgefühl ohne Inhalt“. Im Gegenzug würden wir „das Risiko von
       Gewalt mit all seinen Konsequenzen los“. Und fügt dann an: „Sonst gibt es
       keinen Bildungswert und schon überhaupt keine moralische Besserung, die man
       sich davon erwarten kann, Teil einer Masse zu sein.“
       
       Ohne sie verändere sich womöglich die Form und die Ästhetik „der Spiele, an
       denen wir hängen“, schreibt der 72-Jährige. Gumbrecht ist ein großer
       Sportfan, mindestens einmal im Jahr versucht er, ins Stadion der Dortmunder
       Borussen zu gehen. Seine Begeisterung über diverse Sportspiele ist
       nachgerade ansteckend. Rugby, American Football, Basketball, Fußball,
       Gumbrecht outet sich als Konsument der vollen Dosis und versucht dabei, den
       unter Intellektuellen verbreiteten „Diskurs der Verachtung gegenüber den
       Massen“ zu dekonstruieren.
       
       Gumbrecht bedauert, dass in intellektuellen Zirkeln zumeist ein Vorurteil
       über die gefährliche, unberechenbare Masse kultiviert, andererseits ihre
       Rolle als politischer Agent überhöht wurde. Nie in Gang gekommen sei
       dagegen „ein Diskurs über das Glück in der Masse und ihre ungewöhnlichen
       Möglichkeiten“.
       
       Gumbrecht beschreibt das in seinem Dreistufenmodell der Crowd-Werdung mit
       einer gewissen Emphase so: „Meinem individuellen Bewusstsein wird dabei
       eine körperliche Schicht der Existenz zugänglich, sozusagen ein Vibrieren
       des eigenen Körpers, nach dem ich mich später sehne, zu dem ich zurück
       will.“ Conclusio: Ohne Zuschauer ist der Sport nichts. Er verliert seine
       Substanz. Bis mindestens Oktober, aber wahrscheinlich noch viel länger,
       müssen wir diesen sklerotischen Präventivsport noch ertragen. Es wird hart.
       
       29 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.klostermann.de/Gumbrecht-Hans-Ulrich-Crowds
   DIR [2] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-08-26-de.pdf?__blob=publicationFile
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Markus Völker
       
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