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       # taz.de -- Coronaleugner und US-Wahlen: Über Philosophen und Regisseure
       
       > Friedrich Hegel wäre diese Woche 250 Jahre alt geworden, Christoph
       > Schlingensief ist vor zehn Jahren verstorben. Was würden beide heute
       > sagen?
       
   IMG Bild: Was Christoph Schlingensief wohl zu diesem irren Jahr 2020 zu sagen hätte?
       
       Zwei prominente Jahrestage fielen in diese Woche: Georg Wilhelm Friedrich
       Hegel wäre 250 Jahre alt geworden, Christoph Schlingensiefs Tod jährte sich
       zum zehnten Mal. Zwei Köpfe, die man so gerne noch mal zum Leben erwecken
       und befragen würde zum Zustand der Welt.
       
       [1][Was würde Friedrich Hegel] dazu sagen, dass der Begriff der Freiheit
       zum Dauerlutscher der Coronaleugner*innen-Bewegung geworden ist, die diese
       Freiheit allein für sich selbst in Anspruch nehmen will, sie willkürlich
       und egozentrisch interpretiert – nicht von Vernunft geprägt?
       
       Menschen, die diese Gesellschaft und ihre Gesetze wahlweise als
       Betriebsunfall oder als unrechtmäßige Einschränkung ihrer Freiheit
       missverstehen wollen, auf gar keinen Fall aber als deren Ermöglichung. Die
       deshalb umso lieber in vorauseilenden Gehorsam verfallen, wenn radikale
       Rechte zum „Sturm auf Berlin“ aufrufen – als seien sie allesamt vom
       Brotpreis Geknechtete und nicht mehrheitlich mit ihrer Gesamtsituation
       unzufriedene Kleingeister.
       
       Ausgerechnet Hegels Geburtsstadt Stuttgart musste mehrmals Kulisse für
       „Querdenken“ herhalten, was allerdings insoweit gerettet wurde, als
       kürzlich der Kabarettist und studierte Philosoph Florian Schröder dort
       auftrat. Er war eingeladen worden in der Annahme, dass man auf einer Seite
       stehe, weil man offenbar einen Auftritt Schröders in einer Comedysendung
       des NDR falsch verstanden hatte. (Seufz. Und: Aha! Man guckt also doch
       Mainstreammedien.)
       
       ## Dialektik
       
       Schröder begab sich aus der Komfortzone hinaus und täuschte zunächst
       Sympathie an, bevor er eine Behauptung der Coronaleugner nach der anderen
       auseinandernahm. Auch auf Hegel kam er zu sprechen, und aus dem
       anfänglichen Applaus wurden Buhrufe, denn da war ja noch diese Dialektik,
       Querdenken im besseren Sinne: „Freiheit heißt, sinnvolle Einschränkungen zu
       akzeptieren und einen wie mich auszuhalten.“ Das Video dieses Auftritts
       kann man noch im Internet anschauen, es lohnt sich.
       
       Was hätte [2][Christoph Schlingensief wohl aus dem Thema] – und aus vielen
       anderen – gemacht? Ich wüsste gerne, was er wohl zu diesem irren Jahr 2020
       zu sagen hätte. Auch dazu, dass Aufreger in der Kulturszene heute in Person
       einer maliziösen Comedienne in Versace daherkommen, die sich mit
       billig-berechenbaren Witzchen, bevorzugt über Juden und die „Erektion des
       schwarzen Glieds“ – mit denen sie laut eigenen Angaben bloß Stereotype
       demaskieren und keineswegs welche hatte verstärken wollen –, selbst
       verstieß.
       
       Wobei [3][diese „Cancel Culture“], die das leicht angegraute Persona non
       grata abgelöst hat, in ihrem Fall – wie in so vielen anderen – darin
       bestand, dass ihr kürzlich erschienener Debütroman jetzt erst recht in den
       Feuilletons besprochen wurde, Spiegel und SZ-Magazin mit ihr Sekt und
       Weißweinschorle tranken und die Ausladung von einem Hamburger
       Literaturfestival mehr Aufmerksamkeit generierte, als es wohl leider selbst
       ein noch so krasser Schlingensief-Auftritt vermocht hätte: Provokation
       nicht als Mittel, sondern als Zweck.
       
       Drüben in den USA hat sich derweil sowieso alles komplett verdreht. Da
       warnt [4][die Kampagne von Präsident Donald Trump] vor dem „Nepotismus“ des
       Gegenkandidaten der Demokratischen Partei, Joe Biden, während auf der
       Rednerliste des Nominierungsparteitags der Republikaner fast alle
       Mitglieder der engeren Familie Trump vertreten waren: Montag Donald jr.,
       Dienstag Ehefrau Melania und die Kinder Eric und Tiffany, Mittwoch
       Schwiegertochter Lara, Donnerstag Lieblingstochter Ivanka, die einen
       eigenen Posten im Weißen Haus hat. Und die, genau wie ihr Vater, sich
       erdreistete, ihre Wahlkampfrede dahin zu verlegen, wohin sie nicht gehört:
       auf den heiligen Rasen des White House. Eine weiterer Grundsatz der
       US-Demokratie – geschreddert.
       
       ## Wisconsin
       
       Währenddessen spielen sich in der Stadt Kenosha in Wisconsin unfassbar
       schlimme Szenen ab, die wie unter einem Brennglas zeigen, wie es um dieses
       Land nach vier Jahren Donald „Law and Order!!!!“ Trump steht.
       
       Am Montag wurde erneut ein schwarzer US-Amerikaner von einem Polizisten
       angeschossen, mit sieben Schüssen in den Rücken. Sieben. In den Rücken. Zum
       vermeintlichen „Schutz“ vor Ausschreitungen im Rahmen der
       Black-Lives-Matter-Proteste der folgenden Tage versammelten sich bewaffnete
       Bürgerwehren, von denen einer, erst 17 Jahre alt, mit seinem Sturmgewehr
       zwei Demonstranten erschoss und einen weiteren verletzte.
       
       Der Wahlkampf ist derweil zusammengeschnurrt auf diese vollkommen
       ernstgemeinte Meldung der New York Times: „Nachdem Vizepräsident Mike Pence
       ‚Joe Bidens Amerika‘ attackiert hatte, sagte Mr Biden, ‚Donald Trumps
       Amerika‘ sei die größere Gefahr.“ Wie schön, wenn das alles nur eine
       Schlingensief-Inszenierung wäre.
       
       29 Aug 2020
       
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