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       # taz.de -- Living Planet Report 2020: Wildtiere verschwinden von der Erde
       
       > 68 Prozent weniger Landwirbeltiere seit 1970 zeigt das wichtige
       > Öko-Barometer des WWF. Zuletzt hat sich der Rückgang aber verlangsamt.
       
   IMG Bild: Gehört zu den besonders Betroffenen: die Lederschildkröte
       
       Man möchte heutzutage kein wildes Tier sein. Der Schwund bei rund 21.000
       Populationen von Säugetieren, Vögeln, Fischen, Amphibien und Reptilien
       zwischen 1970 und 2016 beträgt im Durchschnitt 68 Prozent. Das ist das
       dramatische Hauptergebnis des [1][„Living Planet Report 2020“, den die
       Umweltstiftung WWF] am Mittwoch in Berlin vorstellte. „Wäre der Living
       Planet Index ein Aktienindex, würde er die größte Panik aller Zeiten
       auslösen“, kommentierte Christoph Heinrich, Vorstand Naturschutz bei WWF.
       
       Es ist die 13. Ausgabe des Berichts, der seit 1998 erscheint. In
       Zusammenarbeit mit der Zoologischen Gesellschaft London wurden Bestände von
       mehr als 4.400 Wirbeltierarten einbezogen. Das sei nur ein kleiner
       Ausschnitt der biologischen Vielfalt, erläuterte Heinrich. Wie es
       beispielsweise [2][um Insekten steht], thematisiert der Bericht zwar, fehlt
       aber bisher im Index selbst.
       
       Die sich auf Populationen konzentrierende Studie sagt somit nicht direkt
       etwas über den Artenschwund. Existieren aber von einer Art nur noch stark
       dezimierte Bestände, wird auch ihr Aussterben immer wahrscheinlicher. Als
       extrem gefährdete Tiere nennt der WWF den Östlichen Flachlandgorilla im
       Kongo, Lederschildkröten in Costa Rica und Störe im Jangtse – bei den
       Letztgenannten liege der Rückgang seit 1970 sogar bei 97 Prozent.
       
       Besonders schlechte Durchschnittswerte weist der Bericht für die Tropen
       aus. In Süd- und Zentralamerika sind demnach die Tierbestände mit 95% am
       stärksten geschrumpft. Noch gravierendere Entwicklungen als aus
       Regenwäldern kämen aus Feuchtgebieten wie Mooren, sagte Heinrich. Bei den
       dort lebenden untersuchten Arten liege der Rückgang weltweit bei mehr als
       80 Prozent.
       
       ## Tücken der Dateninterpretation
       
       Diese Zahlen sind tatsächlich alarmierend, aber die genaue Interpretation
       birgt auch ihre Tücken. Wie Günter Mitlacher, Leiter Internationale
       Biodiversitätspolitik beim WWF Deutschland, erklärte, verändert sich der
       Datensatz von Bericht zu Bericht. So seien diesmal Messungen von etwa 4.000
       zusätzlichen Beständen eingeflossen.
       
       Das verstärkt einerseits die Aussagekraft, schmälert aber die
       Vergleichbarkeit der Reports untereinander. Der aktuelle zeigt nämlich
       einerseits einen Rückgang um 68 und damit erstaunliche [3][8 Prozent mehr
       als der letzte von 2018]. Das liegt aber offenbar an der ausgeweiteten
       Datenbasis. Wenn man auch für die Vergangenheit die neuen Daten einbezieht,
       zeigt sich, dass der Wert in den letzten vier Jahren etwa konstant blieb.
       
       Die Datenbasis des Living Planet Report gilt trotz seiner
       Unzulänglichkeiten und Widersprüche als breit und solide. Berücksichtigt
       werden Tierbestände aus allen Klimazonen, Kontinenten und aus verschiedenen
       Lebensräumen. Eine seiner Stärken ist vor allem die systematische
       Einbeziehung von Messreihen mehrerer Jahrzehnte.
       
       Dem Vorsitzenden des Instituts für Biodiversität, Axel Paulsch, zufolge
       handelt es sich um „eines der langfristigsten und zuverlässigsten
       Monitoringinstrumente“. Es bestätige den alarmierenden Trend, den auch
       andere Zustandsberichte wie der [4][2019 veröffentlichte IPBES-Report]
       zeigen.
       
       ## Ein Umsteuern wäre möglich
       
       Als Hauptursachen gelten Naturzerstörung und -überbeanspruchung, die dem
       Report zufolge in beispielloser Geschwindigkeit voranschreitet. Der WWF
       forderte einen Systemwechsel bei der Agrarpolitik, dem Ernährungssystem und
       den globalen Lieferketten.
       
       Zudem müsse bis 2030 ein Drittel der Erde unter Schutz gestellt werden.
       Dass derartige Maßnahmen den Trend langfristig wieder umkehren könnten,
       zeigen [5][Modellrechnungen am Ende des Reports, die zeitgleich im
       Fachmagazin Nature] erschienen.
       
       Positivbeispiele gebe es ebenfalls schon: Bestände großer Vogelarten wie
       des Seeadlers hätten sich in Deutschland dank gezielter Schutzmaßnahmen
       erholt. Dass der Rückgang in Europa mit 25 Prozent vergleichsweise gering
       sei, habe aber noch einen anderen Grund: Die meisten Wildtiere sind hier
       schon vor 1970 verschwunden.
       
       10 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.wwf.de/living-planet-report
   DIR [2] /Analyse-zu-Insektensterben/!5678256/
   DIR [3] /Massives-Wildtiersterben-seit-1970/!5543981&s=andrew+m%C3%BCller/
   DIR [4] /Weltweites-Artensterben/!5592689&s=/
   DIR [5] https://www.nature.com/articles/s41586-020-2705-y
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrew Müller
       
       ## TAGS
       
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