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       # taz.de -- Proletarische Herkunft und Medienbetrieb: Zweifel. Widerspruch. Schreiben.
       
       > Wer von einem Ort kommt, an dem weder gelesen noch geschrieben wurde –
       > für den ist es nicht selbstverständlich, das Wort zu ergreifen.
       
   IMG Bild: Mario Pérez Santos (r.) und Margarito Hernández lernen auf der Baustelle Lesen und Schreiben
       
       Als ich erfahren habe, dass ich diese Kolumne schreiben darf, habe ich mich
       erst gefreut. Dann habe ich gezweifelt. Jetzt schreibe ich sie, weil ich
       zweifle. Und ich denke, es gibt viele andere Menschen, die wie ich
       zweifeln.
       
       Was für Zweifel?
       
       Zweifel, die jemand hat, der nicht in dem sozialen Milieu aufgewachsen ist,
       in dem er sich heute bewegt, in dem er schreibt. Ein Milieu, in dem er sich
       als Eindringling fühlt, weshalb er es vermeiden möchte, allzu sehr
       aufzufallen. Was dieser Schreibende nicht zu verraten versucht, findet sich
       aber immer auch in seinen Texten wieder, vermittelt über die Probleme, für
       die er sich interessiert. Was passiert, wenn er sein eigenes
       Eindringlingsein zum Gegenstand des Schreibens macht?
       
       Die Zweifel desjenigen, für den das Schreiben nie selbstverständlich war.
       Weil er von einem Ort kommt, an dem weder gelesen noch geschrieben wurde.
       Es wurde höchstens mal ein Einkaufszettel oder eine Krankmeldung für die
       Schule geschrieben, Gute-Nacht-Geschichten oder Zeitung gab es nicht. Weil
       die Handarbeit in der Fabrik und zu Hause den Alltag beherrschte, weil für
       Kopfarbeit keine Zeit war. Gleichzeitig war es auch ein Ort, an dem es ein
       Ziel, eine Hoffnung auf eine Zukunft gab, in der gelesen und geschrieben
       wird. Und dementsprechenden Druck. Was bringt es aber, wenn manche von
       diesem Ort später mit dem [1][Schreiben ihr Geld verdienen], andere aber
       weiter nicht dazu kommen?
       
       ## Was soll Schreiben ausrichten?
       
       Zweifel darüber, was es überhaupt für einen Sinn haben kann, so eine
       „Kolumne über soziale Ungleichheit“ zu schreiben. Wenn Revolutionen nichts
       daran ändern konnten, [2][dass manche immer noch als Arbeiterkinder, andere
       als Akademikerkinder oder Erben auf die Welt kommen,] was soll dann schon
       eine Kolumne, was soll Schreiben überhaupt ausrichten?
       
       Und deshalb auch Zweifel, dass so eine Kolumne letztlich nur dazu dient,
       die Glücklichen ihres Glücks und des Unglücks der anderen zu vergewissern,
       ihre sozialvoyeuristischen Gelüste zu befriedigen, und somit die
       Verhältnisse zu festigen. So schlimm können die ja nicht sein, wenn auch
       einer von da unten eine Kolumne schreibt?
       
       Zweifel können einen erdrücken. Sie können als Schwäche verstanden werden.
       Wenn du es zu etwas bringen willst, dann darfst du nicht zweifeln. Aber es
       gibt Zweifel, weil es ein Problem gibt. Wer zweifelt, der ist nicht
       zufrieden, der hinterfragt, der findet etwas ungerecht.
       
       Zweifel machen auch wütend. Und sie werden zum ersten Schritt des
       Widerspruchs gegen eine Normalität, in der die Menschheit gespalten ist: in
       jene mit Kapital und solche, die allein über ihre Arbeitskraft verfügen.
       
       Proleten können es sich nicht leisten, allzu sehr zu zweifeln. Denn Zweifel
       muss man sich leisten können, sie setzen Zeit und Sicherheit voraus.
       Postproleten können das eher, sie müssen. Und wer einmal zweifelt, der muss
       etwas tun. Ich schreibe diese Kolumne.
       
       11 Sep 2020
       
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