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       # taz.de -- Nach Coronademos in Berlin: Die frustrierte Minderheit
       
       > Die Coronaproteste sind keine Demonstration von Stärke. Sie sind das
       > letzte Aufbäumen einer gesamtgesellschaftlich in die Defensive geratenen
       > Rechten.
       
   IMG Bild: Coronademo am 29. August in Berlin
       
       Anlässlich der Treppenstürmung [1][vor dem Reichstag] und angesichts
       vorangegangener sowie noch zu befürchtender weiterer Demos dieser Art haben
       sich [2][Timm Kuehn] in der taz und [3][Gerhard Hanloser] im Neuen
       Deutschland mit der Rolle der Linken in diesem Zusammenhang beschäftigt.
       
       Während Kuehn eine Krise der Linken darin erblickt, dass sie keine „eigene
       Erzählung“ anzubieten habe, sekundiert Hanloser, die Linke sehe Rechte auch
       da, wo keine seien, und beide Autoren meinen, dass „die Linke“ aus ihrer
       „Wohlfühlzone“ herauskommen und sich mehr um die „Versprengten“ bemühen
       müsse.
       
       Bei genauerer Betrachtung haben Rechte allerdings weder „abgeräumt“ noch
       sind die jüngsten Darbietungen in Berlin irgendwie der Linken anzukreiden.
       Stattdessen bestätigen Umfragen, dass die Bereitschaft, die
       Pandemiemaßnahmen zu akzeptieren, in der Bevölkerung stabil auf hohem
       Niveau liegt. Zudem lehnen laut einer Forsa-Umfrage für n-tv und RTL 91
       Prozent der Gesamtbevölkerung die Coronademos ab.
       
       Wer aber, wie Hanloser, der Linken vorwirft, die Anliegen der
       „Proletarisierten, der Außerkursgesetzten und der sozial wie psychisch mit
       Lockdown-Folgen Überforderten“ nicht „in Worte gefasst“ zu haben, was die
       Rechtsradikalen aber schon getan hätten, dann ist das eine zumindest
       seltsame Deutung. Denn wenn 90 Prozent der Bevölkerung diese
       Demonstrationen ablehnen, dann hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch
       der allergrößte Teil der „Strauchelnden, Unklaren und Suchenden“ gerade
       eben nicht von Maskenrebellen aufstacheln lassen.
       
       Auch dass „der Neoliberalismus“ die Rechtsradikalen gewissermaßen
       automatisch produziere, wie Kuehn meint, ist angesichts dieser Zahlen kaum
       haltbar. Wer mit Nazis marschiert, begibt sich schon selbst in deren
       Nachbarschaft. Und: Nach Ausbruch der Pandemie wurden schnell Hilfsgruppen
       gebildet, Einkaufsdienste wurden organisiert, man übte sich in Solidarität.
       Diese auf Telegram organisierten Gruppen sind, wie etwa in Frankfurt am
       Main, teils bis heute aktiv und sammeln inzwischen auch Computer für arme
       Familien, um deren Kindern Online-Unterricht zu ermöglichen. Auch viele
       Linke engagieren sich in solchen Gruppen. Die Rechten haben in erster Linie
       das Internet vollgespammt, wie man hört.
       
       Wenn also eine linke Erzählung gewünscht wird, wie wäre es mit dieser:
       Obwohl der bürgerlich-kapitalistische Staatsapparat nichts unversucht
       lässt, linke Politik zu erschweren, haben der linke Diskurs und Aktivismus
       erstaunlich viele Erfolge vorzuweisen. Ein Beispiel: Wer in den 1980ern und
       frühen 1990ern ein Bundesligastadion besuchte, wurde Zeuge allgegenwärtigen
       Rechtsradikalismus. Kaum ein Fanblock ohne Reichskriegsflagge, kein
       Ballkontakt eines schwarzen Spielers ohne „Uh-uh-uh“-Rufe, auch
       Homosexuellenfeindlichkeit bestimmte praktisch jeden Schlachtruf.
       
       Das hat sich geändert, heute ist Derartiges in vielen Fangruppen verpönt.
       Es waren linke und liberale Gruppen, die sich innerhalb der Fangemeinden zu
       Ultragruppen zusammenschlossen und einen bestimmten Konsens durchsetzten.
       Das sind dicke Bretter, die linke Politik immer bohren muss.
       
       Heute wird fast jedes politisch relevante Thema von linker Politik gesetzt
       und bestimmt. Der Atomausstieg: Ergebnis linker Diskurse; die Klima- und
       Klimagerechtigkeitsbewegung, Fridays for Future, Ende Gelände: bestimmt von
       linken und linksradikalen Gruppen. Derzeit wird im Arbeitsministerium über
       eine Viertagewoche nachgedacht, und eine Pilotstudie zum Grundeinkommen
       wird durchgeführt. Die Liste ließe sich verlängern.
       
       Dort, wo sich ArbeiterInnen, SchülerInnen, KlimaaktivistInnen,
       SeenotretterInnen organisieren, findet linke Politik statt, wo immer
       Betriebsräte gegründet oder Streiks organisiert werden, wo immer
       Emanzipatorisches diskutiert wird, findet wirksame linke Politik statt.
       
       Und neben all dem findet die politische Linke im Land noch Zeit dafür,
       Demonstrationen zu organisieren, wenn es symbolpolitisch notwendig oder
       erfolgversprechend scheint. Wenn ein paar linksradikale Punkrocker um
       Unterstützung in Chemnitz bitten, kommen 65.000 AntifaschistInnen. Nach
       Chemnitz! Während die Kaisertreuen schon vor Stolz platzen wegen der
       großzügig geschätzten 40.000 DemonstrantInnen in Berlin.
       
       ## Zustimmung für Merkel auf Rekordniveau
       
       Die politische Rechte musste mitansehen, wie sie bei fast allen politischen
       Themen in die Defensive geraten ist. Keine „Negerküsse“ und neuerdings auch
       keine „Zigeunersoße“ mehr, dafür heiraten jetzt Homosexuelle – harte Zeiten
       für Rechtskonservative. Sie mussten mitansehen, wie der bis dahin
       traditionelle Männerbund in der eigenen Partei von Angela Merkel und ihren
       MitstreiterInnen sozialdemokratisiert wurde. Und wie Merkel sich als Klima-
       und Flüchtlingsfreundin profilierte und dafür in Umfragen
       Rekordzustimmungswerte erntet.
       
       Man könnte dies alles auch so lesen: Der Kapitalismus in seiner
       national-bürgerlichen Staatlichkeit ist moralisch am Ende, diese
       Gesellschaftsformation produziert nur noch Ungerechtigkeiten und die
       ökologische Zerstörung des Planeten. Laut dem Edelman Trust Barometer 2020
       stimmen 55 Prozent der Bevölkerung der Aussage zu, der Kapitalismus sorge
       für mehr Schaden als Nutzen.
       
       Die letzte Strategie der argumentativ in die Ecke Gedrängten: den
       völkischen Schrott wieder hervorkramen, eine parallele Realität erfinden
       mit Kindern, denen unterirdisch Blut abgezapft wird. Oder einfach
       behaupten, man verstehe mehr von Virologie als die Fachwelt und die
       Wissenschaft sei von Bill Gates gekauft.
       
       Das Dümmste und Falsche wäre, sich als Linke auf dieses bemerkenswert
       hilflose Manöver der 10 Prozent Restrechten einzulassen und sich eine Krise
       einreden zu lassen.
       
       11 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Demonstrationen-gegen-Corona-Massnahmen/!5712525
   DIR [2] /Nach-der-rechten-Demo-in-Berlin/!5706546
   DIR [3] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141063.linke-die-nur-rechte-sehen.html?sstr=Hanloser
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nicolai Hagedorn
       
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