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       # taz.de -- Tonwechsel zu John Cages Geburtstag: So langsam wie möglich
       
       > Seit 2001 läuft im Buchardikloster in Halberstadt ein 639 Jahre langes
       > Orgelstück von John Cage. Nun fand ein Tonwechsel statt.
       
   IMG Bild: Pilgern zu Cage und zum Tonwechsel in Halberstadt; Wartende vor der Burchardikirche am 5. September
       
       Pilgerstätten sind wundervolle Orte. Sie erinnern uns an unsere nomadische
       Vergangenheit, weil wir uns ihnen durch eine Reise annähern müssen.
       Gleichzeitig sind sie ein Ort der temporären Sesshaftigkeit, an denen der
       Mensch nach seiner Ankunft Ruhe und Muße findet. Bis wir uns wieder zurück
       in den Alltag aufmachen.
       
       Seit dem Jahr 2001 ist das Burchardikloster in Halberstadt zu einem solchen
       Ort geworden. Seit 19 Jahren wird hier das Orgelstück „ORGAN²/ASLSP – As
       SLow aS Possible“ aufgeführt. Es soll insgesamt 639 Jahre dauern und ist
       somit das langsamste und zweitlängstes Musikstück der Welt. Da es aber
       keinem Menschen jemals vergönnt sein wird, dem Stück in Gänze zu lauschen,
       ist es vielleicht doch eher eine Art Kunstprojekt als reine Musik.
       
       Dass wir uns im Jahre 2020 noch solche Fragen stellen, also, ob wir ein
       solches Werk noch Musik nennen können oder nicht, würde J[1][ohn Cage, dem
       1992 verstorbenen US-Komponisten] von „ORGAN²/ASLSP“ sicher gut gefallen.
       Vor allem, weil er das Werk 1985 mithilfe eines Zufallsgenerators
       komponiert hat, noch dazu mit der Anweisung an seine Interpret*innen, dass
       sie gerne einen Takt weglassen können und dafür einen anderen der insgesamt
       acht Teile nach Gusto einfach zweimal zu spielen.
       
       Das Stück war ursprünglich für Klavier konzipiert. Cage schrieb die
       Partitur schließlich für den deutschen Organisten Gerd Zacher um. Es kam
       1987 in Metz zur ersten Aufführung an der Orgel – damals in insgesamt 29
       Minuten. Cage – mindestens so viel Philosoph wie Komponist – kennt man vor
       allem wegen seines Stücks 4’33’’, das 4 Minuten und 33 Sekunden lang vor
       Publikum Stille in einen performativen Fokus rückt.
       
       ## Der Sound des Zufalls
       
       Seine Hörer*innen lud er immer wieder aktiv dazu ein, konzentriert zu
       lauschen, um zu erfassen, was sich in der Umwelt für eine fantastische
       Soundkulisse abspielt. Ob Autos, spielende Kinder, zwitschernde Vögel oder
       zirpende Insekten, für Cage war alles Sound und er bemühte sich zeit seines
       Lebens, so viele Zufälle wie möglich in seine Kompositionen einfließen zu
       lassen. Ob er das I Ging benutzte oder einen Zufallsgenerator einsetzte:
       Nichts lag ihm anscheinend ferner, als Entscheidungen seines Egos in seinen
       Arbeiten zum Klingen zu bringen. Die Spielanweisungen seiner Werke waren
       dabei oft voller humorvoller Anspielungen.
       
       Dies veranlasste einige Cage-Fans beim Orgelsymposium 1997 in der
       Schwarzwald-Stadt Trossingen, sich gründliche Gedanken über Cages
       Spielanweisung „as slow as possible“ zu machen. Sie gingen ausführlich der
       Frage nach, wie langsam sich ein solches Stück auf einer Orgel wohl
       aufführen ließe.
       
       Man einigte sich schließlich auf 639 Jahre, weil es rückwärts gerechnet vom
       Jahre 2000, dem ursprünglich anvisierten Startpunkt für dieses Projekt, 639
       Jahre zurücklag, dass in Aufzeichnungen die ersten Großorgel der Welt, die
       sich im Halberstädter Dom befindet, erwähnt wurde. Eine Orgel mit einer
       Klaviatur von den noch heute im Abendland regierenden zwölf Halbton-Tasten.
       
       Die Wiege der klassischen Musik ist aus dieser Perspektive also durchaus in
       Halberstadt zu finden. Der [2][US-Avantgardist Harry Partch] ging sogar so
       weit und nannte dies „den fatalen Tag von Halberstadt“. Na ja, wer einmal 4
       Minuten und 33 Sekunden einer Schlagerparade mit Florian Silbereisen im TV
       zugehört hat, quasi der Schattenseite der westlichen Harmonie, kann
       ermessen, was Partch damit gemeint haben mag.
       
       ## Tonwechsel zum 108. Geburtstag
       
       Das Trossinger Symposium nahm jedenfalls Kontakt zu orgelbegeisterten
       Menschen in Halberstadt auf und die Idee fand großen Anklang. 2001 konnten
       sie schließlich mit dem Orgelprojekt im Burchardikloster beginnen. Ein
       kleiner Insiderwitz für Cage-Fans und solche, die es unbedingt werden
       sollten: Das Stück fängt mit einer Pause an. Das bedeutete für das
       Publikum, den extra für das Projekt gegründeten Stiftungsverein und die
       politischen Verantwortlichen in Halberstadt erst einmal drei Jahre Stille.
       
       Selbstverständlich bis auf die zufälligen Geräusche, die sonst noch so
       auftreten: Die Tritte auf dem in der Kirche ausgestreuten Schotterkies, das
       Krakeelen der Elstern, das Wehen der Blätter des alten Kastanienbaums im
       Klosterhof und die ständigen Signalgeräusche der Smartphones.
       
       Am Samstag, dem 5. September, es wäre John Cages 108. Geburtstag gewesen,
       fand nun der 14. Klangwechsel statt. Ein ganz besonderer zudem, weil es
       seit sieben Jahren – der bislang längsten Phase ohne musikalische
       Veränderung – keinen solchen Wechsel mehr gegeben hatte. Diesmal wurden
       zwei Orgelpfeifen bei laufendem Betrieb an die im Werden begriffene Orgel
       angebracht. Zwei weitere Töne zu den bereits fünf klingenden Pfeifen.
       
       ## Den Klang erwandern
       
       Der nun dröhnende Siebenklang klingt für pop- oder klassikverwöhnte Ohren
       erst mal ziemlich dissonant. Aber je nachdem wo man sich gerade in der
       Kirche aufhält, verändert sich die Wahrnehmung des Klangs. Bestimmte
       Obertöne erklingen mal lauter und mal leiser, gewisse Resonanzen erscheinen
       deutlicher als zehn Meter zuvor.
       
       Das Orff-geschulte Ohr gerät hier in Orientierungsnöte. Als wolle hier
       jemand den von Harry Partch angeprangerten Geist von Halberstadt durch
       konsequentes, ausdauerndes Dröhnen ein für alle Male aus der Kleinstadt –
       und damit dem Weltgeist der Musik – vertreiben. Es gibt doch schließlich
       auch Töne zwischen den Halbtönen und die Ordnung der zwölf Töne hat uns
       eben nicht nur Bach oder Beatles, sondern auch das Regelwerk für den
       Waschmittelwerbungssound beschert.
       
       Aber es geht an diesem Ort vor allem um die Verlangsamung, um ein Werk, das
       generationsübergreifend angelegt ist und seine Besucher*innen sofort in
       eine erhabene Stimmung versetzt. Es ist eben kein Wohlklang, der einen hier
       erwartet, sondern ein sanftes Dröhnen. Dieses Projekt erscheint einem wie
       eine Farce und ein Meisterwerk zugleich. Dabei gibt es in diesem Fall nicht
       den einen Meister. Viele Fäden laufen in dem Kloster zusammen: Die
       (Orgel)-Geschichte von Halberstadt, die verrückte Interpretation einer
       Spielanweisung von einigen Freaks und einem Verein voller engagierter,
       Cage-verrückter Jünger*innen, die das alles bis zu diesem Zeitpunkt
       ehrenamtlich auf die Beine gestellt haben.
       
       ## Erstmals Eintrittsgelder
       
       „Let’s talk about money“, sagt der Sozialwissenschaftler Rainer O.
       Neugebauer auf der Pressekonferenz zu den Anwesenden im Cage-Haus am
       Kloster. Seit Jahren sei diese Herzensangelegenheit leider auch eine
       äußerst prekäre. Man habe etwa eine Million Euro über Spenden erhalten.
       Über den Verein, aber auch über Spender, die eine sogenannte „Fördertafel“
       erwerben. 640 Stück gibt es insgesamt. 1.200 Euro kostet so eine kleine
       Tafel, die im Burchardikloster mit persönlicher Widmung bis in die kleine
       Ewigkeit hinein hängt. Es gibt aber nur noch 56 Tafeln zu erwerben.
       
       Beim Tonwechsel am vergangene Wochenende nahm der Verein zum ersten Mal
       Eintrittsgelder. Fast schon mit schlechtem Gewissen, weil sie das
       Kunstprojekt möglichst niedrigschwellig halten wollen. 200 Euro kostete
       eine Karte. Das Kontingent von 200 Karten war dennoch schnell ausverkauft.
       Im Prinzip eine gute Möglichkeit für den Verein, zusätzliche Gelder zu
       generieren. Am liebsten wäre es Neugebauer aber, wohlhabende Gönner würden
       dem Förderverein einfach ein paar Millionen überweisen. Wer mag diesen
       Wunsch nicht mit ihm teilen?
       
       Für Halberstadt ist diese Pilgerstätte der verlangsamten Zeit auf alle
       Fälle ein Glücksfall. In einer Welt, in der manche Orte allein wegen ihrer
       „Instagramability“ zu Publikumsmagneten werden oder weil sie Drehort einer
       gerade gehypten Netflix-Serie sind, hat dieses Werk das große Potenzial,
       über Generationen immer wieder neues Publikum anzuziehen. Es ist nicht
       gebunden an die Popularität einer Schauspielerin oder an die neueste
       Effekthascherei aus der CGI-Abteilung. In Halberstadt spricht allein die
       Kunst zu uns.
       
       Den lästigen Fragen der Finanzierung müssen sich die Verantwortlichen
       leider immer wieder von Neuem stellen. Den für gewöhnlich alles mit sich
       reißenden Geldfluss auf diesem Planeten vermag diese zauberhafte Orgel
       leider noch nicht zu verlangsamen.
       
       8 Sep 2020
       
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