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       # taz.de -- Debatte über Umgang mit Geflüchteten: Kultur des Willkommens
       
       > Verpflichtende Menschlichkeit für die einen, politisch aufgeladenes
       > Schimpfwort für die anderen. Zur Geschichte des Reizbegriffs
       > Willkommenskultur.
       
   IMG Bild: Freiwillige Helferinnen am Münchner Hauptbahnhof, 12.9.2015
       
       Der Begriff „[1][Willkommenskultur]“ ist mit der Debatte über die hiesige
       Flüchtlingspolitik eng verbunden. Für die einen steht er für weltoffenen
       Umgang mit Immigranten, den anderen dient er als Schimpfwort in ihrem
       Feldzug gegen die angeblich drohende Zersetzung der Nation. Heute ist
       jedoch vergessen, dass die Debatte über Willkommenskultur bereits ein
       ganzes Jahrzehnt vor der sogenannten Flüchtlingskrise begann.
       
       Zwiespältig war die unter der von Klaus Wowereit geführten
       Rot-Rot-Koalition (SPD/PDS) im Berliner Senat aufkommende Diskussion von
       Anfang an. Als 2004 die damalige Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (PDS)
       erklärte, man wolle „eine neue Willkommenskultur entwickeln“, stellte
       Innensenator Erhart Körting (SPD) sogleich klar, dass es auch künftig
       Abschiebungen geben werde: „Es werden nicht alle bleiben können.“
       
       Damals ging es vor allem um die schon länger in Berlin „geduldeten“
       palästinensischen und bosnischen Asylsuchenden. Als Orientierungshilfe gab
       Berlins Beauftragter für Integration und Migration, Günter Piening, 2005
       die vermutlich erste amtliche vielsprachige Broschüre für Zuwanderer
       heraus; als „Willkommenspaket“. Der neue Kurs erntete nicht nur Lob. Die
       oppositionellen Grünen kritisierten zunächst, dass das Konzept „viele
       schöne Worte, aber wenig Konkretes zur Umsetzung“ enthalte. Als allerdings
       eine Schule kurz darauf ihre Schüler anhielt, nur Deutsch zu sprechen,
       machte der grüne Abgeordnete Özcan Mutlu den neuen Terminus kurzerhand zum
       Kampfbegriff: Diese Maßnahme zeuge nicht von einer „Willkommenskultur“.
       
       Der Berliner Sprachstreit erreichte 2006 auch die überregionale Presse und
       schnell wurde der Begriff Willkommenskultur zum geflügelten Schlagwort. Um
       dagegen zu wettern, schlachteten rechtskonservative Kreise den „Ehrenmord“
       an der Berliner Deutsch-Kurdin Hatun Sürücü aus und schürten
       antimuslimische Ressentiments. Aus der allgemeinen Debatte wurde auch eine
       über das eigene Verhältnis zu Muslimen, das schon damals gespalten war: So
       etwa forderte im Februar 2007 der Berliner CDU-Fraktionschef Friedbert
       Pflüger eine „neue Willkommenskultur gegenüber muslimischen Migranten“,
       lehnte aber den Bau einer Moschee in Pankow ab.
       
       In den folgenden Jahren wurde der Ruf nach einer „neuen Willkommenskultur“
       immer lauter. Aber auch der Widerstand dagegen wuchs: Alarmistisch wurde
       vor einem drohenden Missbrauch des Rechtsstaats durch muslimische Migranten
       gewarnt. Die etablierten demokratischen Parteien machten sich als Reaktion
       darauf 2013 allesamt in ihren Wahlprogrammen für die Willkommenskultur
       stark. Die CDU warb mit dem Slogan „Vielfalt bereichert – Willkommenskultur
       schaffen“, trat aber entschieden der „Abschottung in Parallelgesellschaften
       und islamischen Sondergerichten außerhalb unserer Rechtsordnung“ entgegen.
       Die SPD forderte eine Willkommenskultur gekoppelt an eine
       „Teilhabestruktur“ und plädierte dafür, die „Ausländerbehörden zu
       Willkommensbehörden“ weiterzuentwickeln.
       
       Letztere waren gewissermaßen schon im Entstehen begriffen, als die AfD 2014
       in ihrem Wahlkampf in Sachsen gegen „Kampagnen für Weltoffenheit oder gar
       Antidiskriminierungsschulungen“ mobilisierte und auf Anhieb 9,7 Prozent der
       Stimmen gewann. Im Dezember 2014 gehörten in Dresden bei Demonstrationen
       von Pegida-Anhängern und -Gegnern die Rufe für und wider die
       Willkommenskultur schon fest zur Straßenkampfrhetorik.
       
       Dass das warmherzige Willkommenheißen der zahlreichen [2][Flüchtlinge im
       Sommer 2015] auf deutschen Bahnhöfen nur eine weitere Etappe in einem
       länger schwelenden Konflikt war, ist längst vergessen. Ebenso, dass für die
       Befürworter damals die Schlacht keineswegs gewonnen schien. So sah sich der
       Münchner Stadtrat schon am 9. September veranlasst, die Resolution
       „Willkommenskultur in München“ zu verabschieden. Dass diesem Beispiel
       etliche Stadt- und Gemeinderäte sowie Parteiortsverbände folgten, war kein
       Zufall, unterstützten damals die Gemeindeverwaltungen längst die
       zahlreichen Helferkreise auf vielfältige Weise.
       
       Entsprechend wuchs mit der Zeit auch das Angebot an
       „Willkommenskultur-Schulungen“ für Gemeindemitarbeiter, woraus inzwischen
       ein eigener Wirtschaftszweig geworden ist. Unter dem Modebegriff wurde bald
       alles Mögliche subsumiert: Schon 2016 gab es in Bamberg „Willkommenspakete
       für Neugeborene“, Beelitz in Brandenburg startete einen
       „Babywillkommensdienst“. Enorm gewachsen ist seitdem die wissenschaftliche
       Beschäftigung mit dem Terminus Willkommenskultur und seiner Rezeption in
       Deutschland. Auch ausländische Forscher interessieren sich zunehmend dafür.
       
       ## Warnung vor „Multi-Kulti“
       
       Ein anderer Trend zeigte sich indes in der hiesigen Parteipolitik. CDU/CSU,
       SPD und FDP warben vor der Bundestagswahl 2017 nicht mehr für die
       Willkommenskultur. Die Union warnte ähnlich wie die AfD – und genau wie
       schon 2014 die NPD in Sachsen – ausdrücklich vor „Multi-Kulti“. Die Grünen
       konstatierten besorgt: „Nach einem Jahr Willkommenskultur gibt sie
       zunehmend rechten Stimmungen nach.“ Die Linke blieb dabei, „Teil der
       Willkommens- und Solidaritätsbewegung für die Geflüchteten“ sein zu wollen.
       
       Explizit „Willkommenskultur“ forderte damals als Einzige die AfD. Kapitel 7
       ihres Wahlprogramms, gleich hinter dem über den Islam, hieß:
       „Willkommenskultur für Kinder: Familienförderung und
       Bevölkerungsentwicklung“ – das Rezept der AfD gegen die „Schrumpfung
       unserer angestammten Bevölkerung“.
       
       Die über die Zeit zunehmend kritisierte Willkommenskultur wird von der
       [3][engagierten deutschen Zivilgesellschaft] indes ungebrochen
       weiterpraktiziert. Belege dafür lassen sich leicht finden, so man danach
       sucht.
       
       8 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
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