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       # taz.de -- Berlin Biennale 2020 eröffnet: An den Rissen entlang
       
       > Die 11. Berlin Biennale geht es um Solidarität und Empathie, Teilhabe und
       > Gemeinschaft. Die Werke fordern einen eigenen Blick auf komplexe
       > Kontexte.
       
   IMG Bild: Mariela Scafati, Movilización [Mobilisierung], Installation im KW Institute for Contemporary Art
       
       Berlin taz | Hat die Kunst sie schon überwältigt? Gleich hinterm Eingang zu
       den KW Institute for Contemporary Art begrüßen 65 Holzkörper die
       Besucher*innen der [1][11. Berlin Biennale]. Dicht an dicht liegen sie auf
       dem Betonboden verteilt, zweidimensionale, regungslose Gliederpuppen.
       Einige haben sich flach ausgestreckt, andere zumindest die Füße
       aufgestellt, als könnten sie gleich aufspringen.
       
       „Movilización“, also „Mobilisierung“, hat [2][die argentinische Künstlerin
       Mariela Scafati,] die sich in ihrer Kunst mit Konventionen der Moderne,
       aber auch immer wieder mit feministischem Aktivismus auseinandersetzt, die
       Installation genannt. Angesichts der aktuellen Geschehnisse und Proteste
       rund um Covid-19, [3][Polizeigewalt und systemischen Rassismus] zeigt sie
       ihre Kämpfer*innen in einem Moment der Einkehr, des Sichsammelns, bevor sie
       sich wieder aufbäumen.
       
       Sammeln sollte man sich auch, bevor man sich auf den Rundgang durch die
       vier Standorte dieser Biennale begibt, die am Samstag eröffnete, [4][denn
       das kuratorische Team – Renata Cervetto, Augustin Pérez Rubio, Lisette
       Lagnado und María Berríos] – verlangt seinem Publikum einiges ab. Und auch
       sich selbst forderten sie heraus. In diesem Jahr, in dem so vieles abgesagt
       werden musste, startete die Großausstellung zwar nicht wie geplant im Juni,
       aber immerhin jetzt, drei Monate später. Allein das können die Macher*innen
       als Erfolg verbuchen.
       
       Zudem auf die richtigen Themen gesetzt zu haben: Schon lange vor dem
       Ausbruch von Corona hatten sie Solidarität und Empathie, Gemeinschaft und
       Teilhabe, seelisches und körperliches Wohlbefinden in den Fokus gesetzt,
       Themen die nun noch relevanter erscheinen. Auch im Titel „Der Riss beginnt
       im Inneren“ schwingt all das mit, wie auch die Hoffnung, Systeme der
       Ungleichheit, des patriarchalen Kapitalismus aufbrechen zu können.
       
       Corona-Hürden überwunden 
       
       Organisatorisch stellte die Pandemie ihnen freilich zahllose Hürden.
       Performances oder Interventionen mussten durch andere Formate ersetzt
       werden. Künstler*innen konnten nicht anreisen. Nun steht sie, die „Epilog“
       genannte Schau, welche die Biennale, die offiziell bereits vor einem Jahr
       mit kleineren Ausstellungen und Programmen begonnen hat, abschließen wird.
       Eben das, wie auch die vier Texte, die den vier Kapiteln der Ausstellung
       voranstehen, kann man aufgeblasen finden, besser aber man konzentriert sich
       einfach auf die Kunst.
       
       Da gibt es nämlich, etwa im KW, einige tolle Entdeckungen zu machen – und
       sogar Wiederentdeckungen, wie im Falle [5][der Galli, jener vom Radar
       verschwundenen Künstlerin], die sich mit ihrer lustvollen Malerei gegen die
       männlich dominierte Westberliner Szene der Jungen Wilden durchzusetzen
       versuchte. Allen Unkenrufen zum Trotz gibt es tatsächlich auch
       Berliner*innen unter den Künstler*innen.
       
       Auch der Südkoreaner [6][Young-jun Tak, dessen sich an den Händen haltende
       mit Anti-LGBTQI-Flyern beklebte Christusse] den religiösen Fanatismus
       seines Heimatlandes anprangern, lebt in Berlin. Das Gros ist jedoch von
       weiter weg und wird den meisten Besucher*innen noch unbekannt sein, [7][die
       peruanische Filmemacherin Elena Tejada-Herrera] etwa oder [8][Cansu Çakar
       mit ihrer Miniaturmalerei] über Alltagssexismen in der heutigen Türkei oder
       [9][die Inuit-Künstlerin Shuvinai Ashoona] mit ihren hintergründigen
       Zeichnungen.
       
       Wer Spanisch kann, ist oft klar im Vorteil. Oder Portugiesisch. Oder
       Tagalog. Oder Kurmancî-Kurdisch. Dann könnte man etwa die Graphic Novel,
       [10][die Zehra Doğan im türkischen Gefängnis zeichnete], nicht nur ansehen,
       sondern auch lesen. Eine Übersetzung gibt es bedauerlicherweise weder auf
       der Website der Biennale noch im Handbuch.
       
       Stärkste Positionen im Gropius-Bau 
       
       Zweiter großer Standort der Schau ist der [11][Gropius-Bau]. Dort befinden
       sich die stärksten Positionen. Schon gleich die ersten beiden, denen man
       begegnet, stecken konzeptuell wie sinnlich den Rahmen ab. Da ist [12][die
       Peruanerin Sandra Gamarra Heshiki], die mit ihrem „Museum of Otracism“
       Ausstellungsdisplays europäischer Museen für Anthropologie imitiert.
       
       Der Clou: Die vermeintlichen Inka-Keramiken entpuppen sich beim Herumgehen
       als flache Trompe-l’œil-Malerei auf Glas, auf deren Rückseite
       handschriftlich abwertende Bezeichnungen indigener Völker Südamerikas
       vermerkt sind. Gleich nebenan dechiffriert [13][die Brasilianerin Aline
       Baiana] in einer faszinierenden Stein-Installation „The Cross of the South“
       den kolonialen Ursprung des durch den Bergbau bedingten Raubbaus an der
       brasilianischen Natur.
       
       Die Themen sind mannigfaltig, hangeln sich an den Rissen, den
       Konfliktlinien entlang quer über die Kontinente vor allem des globalen
       Südens. Immer wieder muss man sich auf komplizierte Kontexte, auf neue
       Erzählungen, auf ungewohnte Ästhetiken einlassen. Und dabei mitunter den
       eigenen Blick hinterfragen.
       
       [14][Antonio Pichillá führt das Publikum hinters Licht], indem er inmitten
       seiner textilen Arbeiten ein traditionelles Webgerät der Maya so
       präsentiert, als handle es sich um eine minimalistische Skulptur;
       [15][Castiel Vitorino Brasileiro] wiederum entlarvt mit ihrem Schwarzen
       trans Körper als Projektionsfläche Exotismen – mithilfe gefälschter
       „afrikanische“ Masken.
       
       Kurator*innensprech alles andere als inklusiv 
       
       Von Objekten und Körpern soll auch die Kunst in der daad-Galerie erzählen,
       nur geht es dort weniger gut auf. Liegt es einfach am tatsächlich nicht
       einfach zu bespielenden Ort? Oder doch an der Schwammigkeit des Konzept, wo
       vor allem von Kleidung, von Queerness und Empfindsamkeit die Rede ist? Die
       Risse, hier drohen sie zu zerfasern. Oder zerfaselt zu werden.
       
       Was an dieser Berlin Biennale schwierig ist, hat zum Großteil mit Sprache
       oder Ansprache zu tun, vor allem mit einer Art von Kurator*innensprech, die
       entgegen des eigenen Anspruchs alles andere als inklusiv ist und gerade an
       den beiden kleineren Standorte, dem Ex-Rotaprint, in dem alle bisherigen
       Ausstellungen archiviert sind, und der daad-Galerie den Eindruck trübt.
       
       Ganz auslassen sollte man Letztere aber doch nicht. Wirklich sehenswert ist
       [16][die Videoarbeit von Naomi Rincón Gallardos] im oberen Stockwerk.
       „Resiliencia Tlacuache“ (Opossum-Resilienz) ist eine Feier des nonkonformen
       Lebens und der Überlebenskraft von Traditionen. Leben und Überleben – was
       könnte 2020 besser passen?
       
       6 Sep 2020
       
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