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       # taz.de -- Terrorprozess in Neuseeland: Der Hass bekommt keine Chance
       
       > Beim Terrorprozess im neuseeländischen Christchurch vergibt eine Mutter,
       > die bei der Tat ihren Sohn verlor, dem Täter. Es fühlt sich wie ein
       > Wendepunkt an.
       
   IMG Bild: Aufarbeitung des Terrors: Angehörige bei der Anhörung am Montag beim Gericht in Christchurch
       
       Christchurch taz | Auf dem Dach des Gerichtsgebäudes in Christchurch stehen
       frühmorgens Scharfschützen. Die Straße ist verbarrikadiert, die
       Sicherheitskontrollen streng. Seitwärts, wie im Krebsgang, führen Beamte
       den Angeklagten mit Fußfesseln in den Saal. Schmächtig und blass sitzt
       [1][der Australier, der vor 17 Monaten zwei Moscheen stürmte, 51 Betende
       erschoss, 40 verletzte und etliche mehr traumatisierte], hinter Plexiglas
       und wird die nächsten drei Tage mit den Folgen seiner Tat konfrontiert.
       
       Für die Anwesenden ist es ein emotionaler Marathon. Für den
       rechtsextremistischen Täter, so eine Opfer-Anwältin draußen auf dem Flur,
       ist es „ein Spiel“: „Er ist ein Psychopath, er weidet sich an unserem
       Schmerz.“
       
       [2][Da der 29-Jährige sich schuldig bekannte, gibt es keinen Prozess mehr.]
       Bevor das Urteil festgelegt wird, sprechen 66 Opfer und Hinterbliebene
       darüber, was der Anschlag mit ihnen gemacht hat. Die ersten 26 von ihnen
       kamen am Montag zu Wort – einige per Videoaufzeichnung aus dem Ausland,
       andere lassen ihre „victim impact statements“ vorlesen.
       
       300 Betroffene in 15 Ländern verfolgen das Verfahren zusätzlich per
       Live-Stream, der nirgendwo verbreitet werden darf. Die Medienauflagen sind
       ebenfalls streng, um dem Täter keine Chance zur öffentlichen
       Selbstdarstellung zu geben.
       
       ## Schüsse, Schreie, Blut und Flüchtende
       
       Der Auftakt des ersten Tages ist wie die Rekapitulation des Live-Videos,
       das der Attentäter mit einer Go-Pro während des Massakers gefilmt und im
       Internet verbreitet hatte.
       
       Punkt für Punkt geht die Staatsanwaltschaft durch die Planung und
       Ausführung des ersten Terroraktes und größten Verbrechens in Neuseeland:
       welche Waffen der Täter sich besorgte, wie er die Grundrisse der Moscheen
       studierte, wie er am 15. März 2019 von Dunedin nach Christchurch fuhr und
       um 12.55 Uhr vor der Al-Noor-Moschee parkte, wo gerade das Freitagsgebet
       begann.
       
       Die Schilderung der systematischen Hinrichtungen und Menschenjagden ist
       grausam in ihrer Sachlichkeit. Schüsse, Schreie, Blut, Flüchtende – alles
       wird wieder lebendig. Manche Details – zum Beispiel, dass der Killer eine
       angeschossene Frau auf der Straße zusätzlich mit seinem Auto überfuhr –
       sind neu und verstärken das Bild des Psychopathen.
       
       Neu ist auch, dass er im Polizeiverhör sagte, dass er die Moscheen
       zusätzlich niederbrennen und noch viel mehr Menschen umbringen wollte.
       [3][Seine Tat bezeichnete er selbst als „Terroranschlag“.]
       
       Gamal Fouda, der Imam der Al-Noor-Moschee mit rot-weißer Kappe, ist der
       Erste, der über den Horror und das Chaos des gleichen Tages spricht – wie
       er half, durch Bankkarten und Brieftaschen Männer zu identifizieren, und
       wie er schließlich 35 Familien von einem Massenbegräbnis überzeugte.
       
       „Das Schwerste war, meiner Gemeinde die Namen der Toten zu sagen“, sagt er.
       „Ich habe fünf Tage lang meine Kinder nicht gesehen.“
       
       Es folgen die Berichte von Flüchtlingen, die Krieg und Terror hinter sich
       gelassen hatten, um im friedlichen Neuseeland ein neues Leben zu beginnen.
       Von Eingewanderten, die sich für die Schönheit der Natur begeisterten.
       Manche sprechen drei Minuten, andere zwölf, mit Übersetzung.
       
       ## Die meisten können nicht mehr schlafen
       
       Alle haben sie körperliche und seelische Wunden. Die meisten können nicht
       mehr schlafen, manche nicht mehr arbeiten, es stehen noch immer Operationen
       bevor, die Visasituation ist unklar. Es sind Dokumente psychischer und
       seelischer Zerrüttung – und Liebeserklärungen an all die Ermordeten.
       
       Manchmal fällt das Wort „Märtyrer“, aber Rache oder Hass klingt niemals
       durch. Der Angeklagte sitzt still und verzieht keine Miene.
       
       Danach steht Janna Ezat im Saal – zierlich, elegant, ohne Hidschab. Die
       Kalligrafin aus den Vereinigten Arabischen Emiraten verlor ihren Sohn,
       Hussein al-Umari. An ihrem Geburtstag, am Muttertag, wurde seine Leiche
       freigegeben.
       
       Sie dreht sich zum Angeklagten. „Ich habe beschlossen, Ihnen zu vergeben“,
       sagt sie. Sie wiederholt ihre Worte, „I forgive you“. Der blasse Mann
       schaut ihr ins Gesicht, zuckt leicht und wischt sich über die Augen. Es
       fühlt sich wie ein Wendepunkt an.
       
       24 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Anke Richter
       
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