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       # taz.de -- Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland: Absaugen statt ausschaben
       
       > Bislang gibt es in Deutschland keine medizinischen Leitlinien zum
       > Schwangerschaftsabbruch. Das soll sich laut Bundesgesundheitsministerium
       > nun ändern.
       
   IMG Bild: Deutschland soll eine Leitlinie für sichere Schwangerschaftsabbrüche bekommen
       
       Berlin taz | Deutschland soll erstmals eine medizinische Leitlinie für
       sichere Schwangerschaftsabbrüche bekommen. Das geht aus einem Papier des
       Bundesgesundheitsministeriums und der Bundesärztekammer hervor, das der taz
       vorliegt.
       
       Die „nationale Leitlinie“ soll Teil eines „Konzepts zur Fortentwicklung der
       Qualifizierung von Ärztinnen und Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche
       vornehmen“, sein. Im Zuge der Diskussion über die [1][Neufassung des
       Paragrafen 219a Strafgesetzbuch] hatte die Bundesregierung
       Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) beauftragt, ein solches
       Qualifizierungskonzept bis Ende 2019 vorzulegen. Nun befindet sich der
       Entwurf nach Angaben des Ministeriums in der Ressortabstimmung.
       
       Paragraf 219a StGB regelt, [2][ob und wie Ärzt:innen öffentlich darüber
       informieren dürfen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen]. Er war
       Anfang 2019 reformiert worden.
       
       Die Entwicklung der „nationalen Leitlinie zum sicheren
       Schwangerschaftsabbruch“ durch die Fachgesellschaften soll vom Ministerium
       finanziell unterstützt werden. Die Leitlinie solle sich an den
       [3][WHO-Empfehlungen für sichere Schwangerschaftsabbrüche] von 2012
       orientieren.
       
       ## Wer darf Abbrüche machen?
       
       Diese lauten etwa, statt auf die in Deutschland nach wie vor verbreitete
       Methode der Ausschabung vor allem auf die schonendere Absaugmethode zu
       setzen. Auch solle das „Clinical practice handbook for safe abortion“ der
       WHO erstmals ins Deutsche übersetzt werden.
       
       Zur Durchführung von Abbrüchen sei in Deutschland mit Ausnahme von Bayern
       und Niedersachsen derzeit „grundsätzlich jede Ärztin und jeder Arzt
       berechtigt“, wenn sie die entsprechenden Kenntnisse und Erfahrungen
       mitbrächten, heißt es in dem Papier. In den Fachgesellschaften hingegen
       bestehe „Einigkeit darüber, dass für die operative Durchführung von
       Schwangerschaftsabbrüchen nur Fachärzte für Frauenheilkunde und
       Geburtshilfe in Betracht kommen“.
       
       Eine solche Einschränkung sei nicht Teil des geplanten Konzepts,
       versicherte ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums auf Anfrage.
       Genau das befürchten Ärzt:innen, die Abbrüche durchführen. Es wäre ein
       „gravierender Einschnitt in die Versorgungslage“, sagte etwa die
       [4][Gießener Ärztin Kristina Hänel] der taz. Hänel, das Gesicht des Kampfes
       gegen den Paragrafen 219a, ist selbst Allgemeinmedizinerin.
       
       Seit Langem weist sie auf den Ärzt:innenmangel im Bereich
       Schwangerschaftsabbruch hin: [5][Nur etwa 1.200 Mediziner:innen in
       Deutschland führen Abbrüche durch], Tendenz sinkend. In manchen
       norddeutschen Regionen ist die Versorgung von pendelnden Ärzt:innen aus den
       Niederlanden abhängig – auch diese sind oft keine Gynäkolog:innen.
       
       ## WHO ist gegen Restriktionen
       
       Neben „ethisch-moralischen Gründen“ sei häufig auch „die fehlende Akzeptanz
       Grund für Ärztinnen und Ärzte, die Verfahren nicht durchzuführen“, heißt es
       dazu knapp in dem Papier. Das dürfte nicht zuletzt an der [6][deutschen
       Rechtslage] liegen: Schwangerschaftsabbrüche sind verboten, unter
       festgelegten Bedingungen aber innerhalb der ersten zwölf Wochen nach
       Empfängnis straffrei.
       
       Ungewollt Schwangere müssen zu einer Pflichtberatung und dann eine
       Wartefrist von drei Tagen verstreichen lassen: Restriktionen, die den im
       Papier genannten WHO-Empfehlungen widersprechen.
       
       Wenig Handlungsbedarf sieht der Konzeptentwurf in der Aus-, Fort- und
       Weiterbildung. Rückmeldungen der Hochschulen etwa hätten ergeben, dass
       „alle medizinischen Fakultäten das Thema Schwangerschaftsabbruch im Rahmen
       des Fachs ‚Frauenheilkunde und Geburtshilfe‘ im Pflichtcurriculum
       behandeln“.
       
       ## Zu wenig Verständnis, zu viel Tabu
       
       Das sieht Alicia Baier anders. „Studierende berichten uns, dass Abbrüche an
       manchen Universitäten nur im Bereich der Medizinethik behandelt werden“,
       sagt die Ärztin, die Mitglied der Organisation Doctors for Choice ist.
       Viele Krankenhäuser, an denen der Nachwuchs seine praktische Ausbildung
       absolviert, führten Abbrüche gar nicht durch.
       
       Die Doctors for Choice haben deswegen in dieser Woche ein eigenes Angebot
       zertifizierter Onlinefortbildungen gestartet. In Deutschland fehle bisher
       „das Verständnis dafür, [7][dass Schwangerschaftsabbrüche zur Gynäkologie
       dazugehören]“, kritisiert Baier.
       
       Noch dazu sei das Thema durch die aktuelle Gesetzeslage stark tabuisiert.
       „Deswegen haben wir ja bis heute keine Leitlinien, und deswegen entscheiden
       sich so wenige dafür. Die meisten lassen lieber die Finger davon“, sagt
       Baier.
       
       20 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Abstimmung-im-Bundestag/!5575168
   DIR [2] /Prozess-wegen-Paragraf-219a/!5649421
   DIR [3] https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/70914/9789241548434_eng.pdf;jsessionid=95CC7DA33D978719B9C11C2687CD6A81?sequence=1
   DIR [4] /Kristina-Haenel-ueber-Paragraf-219a/!5632534
   DIR [5] /Immer-weniger-Aerztinnen/!5487589
   DIR [6] /Schwangerschaftsabbruch-in-Deutschland/!5693137
   DIR [7] /Thema-Abtreibung-im-Medizinstudium/!5502618
       
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