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       # taz.de -- Geheimdienste bei Olympischen Spielen: Wettkampf um Überläufer
       
       > Die Olympischen Spiele sind ein Tummelplatz für Geheimdienste. Ein
       > besonders plastisches Beispiel aus dem Jahr 1960 illustriert den Kampf
       > der Systeme.
       
   IMG Bild: Der sowjetische Weitspringer Igor Ter-Owanessjan, bei den olympischen Spielen in Mexiko 1968
       
       Die Kombattanten des Kalten Krieges führten ihre verdeckten Schlachten
       natürlich auch auf den Feldern des Sports. Sie wussten nur zu gut: Der
       Sport ist hochpolitisch. In einer Phase, in der jede Seite die
       Überlegenheit ihres Gesellschaftsentwurfs demonstrieren wollte, gerieten
       sportliche Großereignisse zum Wettlauf der Systeme. Die Olympischen Spiele
       von Rom, die vor fast genau 60 Jahren eröffnet wurden, wurden auch zum
       Tummelplatz von Agenten, von CIA und KGB.
       
       Da abzusehen war, dass sich bei den Sommerspielen von Rom nicht nur die
       Jugend der Welt unschuldig in den Arenen oder im olympischen Dorf trifft,
       um fröhlich, frank und frei das schöne Sportlerleben zu genießen, bat die
       italienische Regierung schon im Vorfeld darum, die Spiele nicht für
       politische Zwecke zu missbrauchen. Auf dem Rücken der Athleten, fand der
       italienische Verteidigungsminister Giulio Andreotti, sollten keine
       weltpolitischen Scharmützel ausgetragen werden.
       
       Auch die italienische Botschaft in Washington formulierte den frommen
       Wunsch an die USA, die Olympischen Spiele mögen bitte frei sein von
       jeglicher Propagandatätigkeit. Das waren sie auch für den unbedarften
       Beobachter der Wettkämpfe, doch unter der Oberfläche des schönen Scheins
       versuchte der US-amerikanische Geheimdienst CIA an Sowjetsportler
       heranzukommen und sie zur Republikflucht zu überreden.
       
       Angestachelt von den Ereignissen rund um die Sommerspiele von Melbourne
       1956, als insgesamt 48 Sportler aus Ungarn nach der Invasion der Roten
       Armee in ihrem Land den Sprung in den Westen wagten und später mit einer
       „Freedom Tour“ durch die USA tingelten, ging es wieder darum, nach
       Übertrittswilligen Ausschau zu halten und dem Gegner eine lange Nase zu
       drehen nach dem Motto: Seht her, eure sozialistischen Helden sind
       ideologisch so labil, dass sie es kaum erwarten können, der
       Mangelwirtschaft und der allgegenwärtigen Indoktrination zu entkommen; dem
       „Land of the Free“ kann niemand widerstehen.
       
       ## Ukrainische Nationalisten im CIA
       
       299 Sowjetsportler fahren nach Rom, ein großer Teil von ihnen hat
       ukrainische Wurzeln. Genau da versucht die CIA anzusetzen. Sie unterstützt
       nach dem Zweiten Weltkrieg ukrainische Nationalisten wie Mykola Lebed, die
       eine stramm antikommunistische Agenda verfolgen. Lebeds Lebenslauf ist
       schillernd: Er plant mit Stephan Bandera die Ermordung des polnischen
       Innenministers Bronislaw Pieracki im Jahr 1934, gründet später die
       Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), 1944 das Ukrainian Supreme
       Liberation Council (UHVR), als dessen De-facto-Außenminister er zeitweise
       fungiert. Lebed kämpft im Krieg als Partisan gegen Rotarmisten und
       Deutsche, wird nach einem „Fahndungsersuchen des Reichspolizeihauptamtes“
       gesucht und erwirbt sich nach Unterlagen der US-Armee einen Ruf als
       „wohlbekannter Sadist“.
       
       Ungeachtet dieser Kennzeichnung sucht die CIA die Zusammenarbeit mit ihm,
       um Ukrainer in der Sowjetunion zu bearbeiten. Die CIA-Operation trägt den
       Namen „Aerodynamic“. Das zivile Unternehmen, das unter anderem die
       Olympia-Operation von 1960 mitfinanzierte, nennt sich Prolog Research
       Group. Unter seinem Dach werden sowjetkritische Bücher verlegt,
       entsprechende Zeitungen herausgegeben und Radiosender betrieben, die die
       Botschaft von der Suprematie des liberalen Westens nach Kiew oder Lemberg
       tragen sollen.
       
       Die Verbindungen zu Gruppen ukrainischer Emigranten sind eng, und sie alle
       wittern Morgenluft, als es Ende der 1950er Jahre zu Länderkämpfen der
       Leichtathleten kommt. 1958 treffen sich die Delegationen in Moskau, ein
       Jahr später in Philadelphia. Dort versucht Lebed bereits zu klären, wen er
       möglicherweise abwerben konnte. Kugelstoßerin Tamara Press?
       Stabhochspringer Igor Petrenko? Weitspringer [1][Igor Ter-Owanessjan]? Im
       Gegenzug verstärkt der KGB, so mutmaßen es US-Geheimdienstler, seine
       Anstrengungen, um potenzielle Überläufer mit zusätzlichen
       Polit-Infiltrationen zu immunisieren.
       
       ## Russischer Weitspringer im Fokus
       
       Recht schnell hat man sich den sowjetischen Weitspringer Igor
       Ter-Owanessjan ausgeguckt, ein cooler Typ mit einem gewissen Faible für den
       westlichen Lebensstil. Er hört, berichtet die New York Times, in der Heimat
       „Voice of America“, besorgt sich auf seinen Trips durch Europa hin und
       wieder Jazz-Platten und fällt als Fan von Luis Armstrong auf.
       Ter-Owanessjan, seine Mutter ist Ukrainerin, scheint der ideale Kandidat zu
       sein, um Moskau zu blamieren.
       
       Der Weitspringer freundet sich lose mit dem amerikanischen Speerwerfer Al
       Cantello an, Leutnant der US-Marine. In Gesprächen mit Cantello lässt
       Ter-Owanessjan laut CIA durchblicken, dass er unzufrieden sei mit dem
       Sowjetregime. Cantello schlägt dem „Darling des russischen Teams“ vor, in
       den Westen zu fliehen. Angeblich zeigt Ter-Owanessjan Interesse, und so
       informiert Cantello den Sprinter Dave Sime, Mitglied der
       US-Olympiamannschaft und frisch gebackener CIA-Mittler. Der US-Geheimdienst
       versucht nun, ein Meeting mit dem Russen zu organisieren. Sie müssen
       sichergehen, dass Ter-Owanessjan nicht unter Beobachtung des KGB steht. Das
       hätte nicht nur die Operation, sondern auch Ter-Owanesjan selbst gefährdet.
       
       Cantello arrangiert ein erstes Treffen mit einem CIA-Agenten; sechs weitere
       CIA-Typen in drei Autos flankieren die Szene, die wohl wirkt wie aus einem
       B-Movie. Auch Sime trifft sich mit dem Weitspringer, der aber auch davon
       spricht, dass ihm die Sowjetunion alles biete, was er brauche: ein Auto,
       eine Wohnung, Arbeit, Sicherheit. Was könne ihm der Westen noch mehr geben
       außer Freiheit und die kalifornische Sonne?
       
       Einem weiteren Treffen mit einem CIA-Mann, der den Decknamen „Wolf“ trägt,
       will Ter-Owanessjan nur beiwohnen, wenn Dave Sime mitgeht. Doch Geheimagent
       Wolf, laut Sime ein ziemlich „schmieriger Typ“, verpatzt die Chance, weil
       er Ter-Owanessjan mit seinem Vorschlag zum Übertritt schier überrumpelt.
       Die Chance ist vertan. Der Weitspringer nimmt Abstand, voller Angst,
       bereits vom KGB ins Visier genommen worden zu sein.
       
       ## Appell der „Prawda“
       
       Doch die CIA bohrt weiter und setzt den Manager des amerikanischen Teams
       der Gewichtheber, John Terpak auf Jakow Kutsenko, Fahnenträger der
       Sommerspiele von 1952, an. Aber auch dieser Plan schlägt fehl. Lebeds
       Truppe zählt am Ende der Olympischen Spiele von Rom, die ohne eine einzige
       Fahnenflucht eines sowjetischen Athleten zu Ende gehen sollten, 155
       Gespräche mit der Gegenseite: mit Olympiatouristen, Trainern, Offiziellen
       und Athleten.
       
       Den Misserfolg erklären sich die Exil-Ukrainer damit, dass der konstante
       „moralische Terror“, unter dem das sowjetische Olympiateam stehe, zu
       „Angst“ und „vorgefertigten, einstudierten Antworten“ geführt habe. Lebeds
       Leuten bleibt nichts anderes übrig, als weiterhin ihre Schriften – wie die
       sogenannte [2][Geheimrede von Nikita Chruschtschow] über Personenkult und
       deren Folgen – an Adressen in der Ukraine zu schicken und unvermindert in
       die Propagandatröte zu blasen.
       
       Einen Exodus von Ostblock-Athleten wie bei den Spielen von Melbourne
       wollten die Sowjets unbedingt verhindern. KPdSU und KGB hatten also vor den
       Sommerspielen von Rom den Druck auf alle Beteiligten erhöht, zusätzliche
       Politschulungen veranstaltet, das gesamte Team noch einmal zum Besuch des
       Lenin-Mausoleums verpflichtet und Touristen nach Kriterien der politischen
       Verlässlichkeit ausgewählt.
       
       Die Prawda gab den Ton vor. Sie schrieb in einer Art Grußwort vor den
       Olympischen Spielen: „Unsere Sportler repräsentieren die neue
       sozialistische Ordnung, wo ein gesunder Geist und moralische Reinheit
       harmonisch verschlungen sind mit physischer Ertüchtigung. Sport und
       physische Ertüchtigung machen unser Land aus. Sie sind die Quelle von
       Glück, harter Arbeit, Wohlergehen und eines langen Lebens der
       Sowjetbürger.“
       
       Igor Ter-Owanessjan ist heute 82 Jahre alt und lebt in Moskau. Die Treffen
       mit den Klassenfeinden haben dem Bronzemedaillengewinner von Rom nicht
       geschadet. „Fürst Igor“ wurde in den 1980er Jahren Cheftrainer des
       Leichtathletik-Nationalteams. Dave Sime, der in Rom Silber über 100 Meter
       gewann, wurde später Arzt, Speerwerfer Al Cantello Trainer. Mykola Lebed
       verfolgte bis zu seinem Tod 1998 die ukrainische Sache.
       
       Mit dem Ende des Kalten Krieges hat sich der Zugriff der Geheimdienste auf
       Olympia mitnichten verringert. Bei den Sommerspielen von Rio de Janeiro
       waren allein 17 US-Dienste in Brasilien tätig – mit über 1.000 Mann.
       
       24 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Igor_Aramowitsch_Ter-Owanessjan
   DIR [2] https://www.planet-wissen.de/geschichte/diktatoren/stalin_der_rote_diktator/pwiechruschtschowsgeheimrede100.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Markus Völker
       
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