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       # taz.de -- Die Grünen als Zentrum: Zwei Herzen im Gleichtakt
       
       > Anders als in den Medien behauptet, haben die Grünen strategisch derzeit
       > kein Problem. Sie brauchen bloß eines – aus Sicht der Konkurrenz.
       
   IMG Bild: Robert Habeck und Annalena Baerbock in Hamburg
       
       Haben die Grünen ein Problem? Auf diese Frage wird man historisch begründet
       sagen: Und ob. So was von.
       
       Entsprechend kursieren in der Mediengesellschaft derzeit gleich sechs
       Hauptprobleme: Die Grünen sind zu wenig radikal und zu mittig, die Grünen
       sind zu links, die Grünenspitze hat ein strategisches [1][Problem mit
       Ministerpräsident Kretschmann], die Grünen müssen sich endlich zwischen
       Annalena Baerbock und Robert Habeck entscheiden, die Grünen müssen sich zu
       Grün-Rot-Rot bekennen, sonst ist alles aus. Die Grünen müssen sich gegen
       Grün-Rot-Rot bekennen, sonst ist alles aus.
       
       Na ja. Ich habe heute meinen [2][Dual-Plattenspieler 1246] in den Keller
       gebracht, nachdem er jahrelang kaputt herumstand, und ein bisschen so ist
       es auch in der Mediengesellschaft und in unseren Köpfen: Da steht Zeug, was
       längst nicht mehr funktioniert, was man aber ungern wegtun will.
       
       Wie im gleichnamigen Fantasyroman taucht aus den „Nebeln von Avalon“ noch
       das Bild einer Bundesrepublik auf, in der die SPD einen „Kanzlerkandidaten“
       nominiert und [3][eine „progressive“ Regierung bilden] will. Diese Welt
       gibt es noch, solange ein paar Menschen an sie glauben, aber gleichzeitig
       merken zunehmend Leute, dass die alten Antagonismen – angefangen mit
       progressiv vs. konservativ – nicht mehr helfen zur Analyse und politischen
       Bearbeitung einer veränderten Gesellschaft, Weltwirtschaft, geopolitischen
       Lage und vor allem der Klimakrise.
       
       Diese Leute landen zunehmend bei den Grünen. Neue Mittelschicht,
       „privilegiert“, okay, aber gleichzeitig einfach berufstätige Eltern mit
       Kindern in der Rushhour des Lebens. Normal mittige Leute von heute. Das ist
       der Witz und gleichzeitig ist es keiner, weil er nicht den moralischen
       Abstieg eines Randmilieus erzählt, sondern die Emanzipation des
       Mainstreams. Unter uns: Wir erleben, wie autoritäre Populisten das „Es wird
       böse enden“-Gefühl hegemonial machen wollen. Verantwortung bedeutet da
       nicht, auch zu schreien, dass es böse endet, sondern den Laden
       zusammenzuhalten.
       
       Das stärkste Indiz, dass wir mehrheitlich bereits in einer neuen Welt
       leben: Trotz ihrer Nichtrelevanz in der Coronapandemie beziehen sich längst
       wieder alle anderen auf die Grünen. Bei der Linkspartei muss man sehen, ob
       sie nach Katja Kippings Rückzug nicht wieder hinter ihre sichere Mauer
       zurückkehrt. Aber Union, SPD ist eh klar und selbst die FDP kommt jetzt
       dahergeschlichen.
       
       ## Eine neue Methodik
       
       Alle gehen halt davon aus, dass die nächste Bundesregierung um die Grünen
       herum gebaut wird. Und zwar unabhängig davon, ob diese nun das Kanzleramt
       besetzen werden oder nicht. Vielleicht hat Kretschmann recht und er ist der
       einzige Grüne, der in Land oder Bund mehrheitsfähig ist. Aber die Älteren
       werden sich erinnern, dass selbst er am Anfang gegen die damalige
       Mehrheitspartei zum Ministerpräsidenten gewählt wurde.
       
       Das Führungsangebot von Annalena Baerbock & Robert Habeck meint eben nicht
       „grüne“ Führung oder Führung durch eine Frau oder einen Mann, sondern eine
       neue Methodik: Die Koordination neuer gesellschaftlicher Bündnisse, die die
       liberale Demokratie, ihr Wirtschaften und Verteilen sozialökologisch
       voranbringen können.
       
       Strategisch haben die Grünen jedenfalls kein Problem. Sie brauchen bloß
       eines – aus Sicht der Konkurrenz. Solange sie sich keins aufschwatzen
       lassen, sind sie das Zentrum, und ihre Bundesvorsitzenden müssten
       bescheuert sein, wenn sie die Kraft zweier Herzen im Gleichtakt aufgeben
       würden – oder sich thematisch oder koalitionär auf andere Parteien
       beziehen. Noch dazu auf solche, die gerade hinter den Nebeln von Avalon
       verschwinden.
       
       5 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/wahl-in-baden-wuerttemberg-kretschmann-hat-nicht-ein-sondern-drei-dicke-probleme/3999798-2.html?ticket=ST-8773570-bu6y70QdBpMCS3UMVLy7-ap1
   DIR [2] http://www.radiomuseum-bocket.de/wiki/index.php/Dual_1246
   DIR [3] https://www.tagesschau.de/inland/esken-sommerinterview-101.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Unfried
       
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