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       # taz.de -- 100. Todestag von Rudolf Mosse: Der General
       
       > Vom Anzeigengeschäft bis zum Zeitungsimperium: Mit vielen Veranstaltungen
       > wird in Berlin Anfang September des Verlegers Rudolf Mosse gedacht.
       
   IMG Bild: Vor 100 Jahren am 8. September gestorben: Rudolf Mosse
       
       Berlin taz | Gerade 17 Jahre alt, wanderte im Herbst 1860 ein junger Mann
       aus seiner Heimatstadt Grätz in der damaligen Provinz Posen nach Berlin.
       Dass aus dem 1843 geborenen Arztsohn Rudolf Mosse aus einer sehr
       kinderreichen Familie, die ihren Namen „Moses“ assimilierungswillig
       geändert hatte, einmal der größte Steuerzahler Berlins (Stand 1913) werden
       würde, konnte der spätere Verleger und Firmengründer damals wohl noch nicht
       ahnen.
       
       Rudolf Mosse wusste schon früh, was er wollte. Der Buchhändlerlehre folgte
       eine äußerst erfolgreiche Tätigkeit als Anzeigenakquisiteur für die
       Zeitschrift Gartenlaube, die zum Schlüsselerlebnis wurde. Mosse schlug das
       Angebot einer Festanstellung ab und gründete 1867 stattdessen die
       „Annoncen-Expedition Rudolf Mosse“.
       
       Von da an gab es kein Halten mehr für den zielstrebigen Kaufmann, der vor
       allem unabhängig sein wollte. Dabei war es damals keine Seltenheit, dass
       der Sprung vom Kaufmann zum Verleger gelang. So war Leopold Ullstein
       Papiergroßhändler, bevor er seinen gleichnamigen Verlag gründete. Mosse
       wiederum pachtete zunächst die kompletten Anzeigenteile von diversen
       Zeitungen und Zeitschriften und zentralisierte das Anzeigengeschäft. Bis zu
       127 Filialen sollten dabei in vielen in- und ausländischen Großstädten
       entstehen.
       
       Dabei nutzte Mosse vor allem die Gunst der Stunde: die Aufbruchstimmung
       nach der deutschen Reichsgründung von 1871, die sich in einem frischen
       Design spiegeln sollte. Vorbei war es mit der eintönigen Standardausführung
       der Annoncen. Neue Schrifttypen mussten her, originelle Rahmungen und
       witzige Layouts, von hauseigenen Zeichnern kunstvoll entworfen.
       
       Dann legte Mosse noch einen drauf. Wäre es nun nicht höchste Zeit für eine
       nicht verstaubte Tageszeitung, die auch den neuen Spirit der expandierenden
       Reichshauptstadt verkörpern sollte: immer mehr, immer höher, immer weiter?
       Gedacht, getan: Im Januar 1872 erschien die erste Ausgabe des Berliner
       Tageblatts. Es sollte sich von einem reinen Anzeigenblatt zu einer der
       einflussreichsten Zeitungen Berlins entwickeln, die dann 1933
       gleichgeschaltet und wenig später abgewickelt wurde.
       
       Das 1903 fertiggestellte Mosse-Haus in der Schützenstraße – während der
       Novemberrevolution 1919 wurde es bei den Straßenkämpfen schwer beschädigt –
       begründete zudem das historische Berliner Zeitungsviertel um die
       Jerusalemer und Kochstraße in der südlichen Friedrichstadt. Als die taz
       dort 1989 einen Altbau bezog, war nicht mehr viel vom einstigen Hotspot der
       Berliner Presselandschaft übrig geblieben.
       
       Mosses alles andere als bescheidene Maxime hieß anfangs: „Für die
       zivilisierte Welt schreibt, wer für Berlin schreibt!“ Also: nicht kleckern,
       sondern klotzen. So gründete er unter anderem 1889 auch noch die Berliner
       Morgenzeitung, als ihm Leopold Ullstein, neben August Scherl sein größter
       Konkurrent im „Zeitungskrieg“, in dem der Kampf um die Vorherrschaft auf
       dem Zeitungsmarkt ausgetragen wurde, gefährlich nahe kam.
       
       Naturgemäß hatte ein derart erfolgreicher Geschäftsmann Neider und
       Kritiker, vor allem weil er sich mit seinem Anzeigengeschäft zunächst eine
       Monopolstellung hatte verschaffen können. Antisemitische Ressentiments, die
       verstärkt am Ende des 19. Jahrhunderts auftraten, werden ebenso eine Rolle
       gespielt haben, zumal fast allen seiner sieben Brüder der Aufstieg in das
       Berliner Bürgertum gelang und sie auch ranghohe Positionen einnahmen, wie
       etwa der Justizrat Albert Mosse.
       
       Einen Einblick in Rudolf Mosses Geschäftsgebaren und seine Einflussnahme
       auf das gedruckte Wort gibt Fritz Mauthners Roman „Die Fanfare“ von 1888.
       Eine frühe Satire auf Mosse, der seine Autoren der Jagd nach den
       zahlungskräftigsten Inserenten unterordnete, sodass in dem Unternehmen ein
       die Kreativität hemmender Kampf der „Macht des Geistes gegen die Macht des
       Geldes“ tobte, wie auch Siegfried Jacobsohn 1913 kritisch in der Schaubühne
       schrieb. Dazu kam die Bedrohung durch die Konkurrenz, und so gingen große
       Talente im Kampf um den größtmöglichen Profit unter.
       
       Leicht verdauliche Massenware mit schnellem Erfolg hieß somit die Losung
       für die Autoren, die Jacobsohn als „schreibende Konfektionäre“ brandmarkte,
       die zudem für ein unter dem Strich „opportunistisches Bourgeoisblatt“
       schreiben würden.
       
       Jacobsohn würdigte dabei aber gleichzeitig auch, dass Mosse ohne
       Voraussetzungen wie „Geduld, Fleiß, Sorgfalt, Energie, Umsicht, besondere
       Begabung und besonnenen Wagemut“ seine klar gesetzten Ziele niemals
       erreicht hätte, die sich zu einer einzigartigen Lebensleistung entwickeln
       sollten: vom 15-jährigen Schulabgänger aus der Provinz zum Multimillionär
       am Puls der Zeit im berühmten Zeitungsviertel der Reichshauptstadt. Und zum
       Kunstsammler, dessen wertvolle Sammlung circa tausend Werke umfasste, deren
       Verbleib nach dem Raub durch die Nazis 1933 bis heute nicht vollständig
       aufgeklärt ist.
       
       Der Nachruf auf Rudolf Mosse im Berliner Tageblatt, einen Tag nach seinem
       Tod durch einen Herzinfarkt am 8. September 1920 auf seinem Gut
       Schenkendorf, zeichnet wiederum das Bild eines persönlich anspruchslosen,
       aber auch rastlosen Menschen. Eines strengen, aber auch gerechten
       Arbeitgebers mit patriarchalischem Führungsstil. Eines Menschen, der
       zusammen mit seiner Ehefrau Emilie den im jüdischen Glauben verwurzelten
       Wohlfahrtsgedanken verinnerlicht hatte, der sich etwa in der Einrichtung
       eines interkonfessionellen Waisenhauses äußerte, aber auch in der Fürsorge
       für seine Arbeitnehmer.
       
       Aus dem Nachruf kann man herauslesen, dass Mosse ein sehr aufmerksamer Chef
       gewesen sein muss, dessen „blaue Augen alles sahen und durchschauten“.
       Mosse wird daher seinen Spitznamen „der General“ gekannt haben, den ihm
       seine Angestellten verpasst hatten und von dem Rolf Küch, der Stiefsohn des
       Schriftstellers Josef Wiener-Braunsberg, berichtet, der bei Mosse von der
       Pike auf Verlagskaufmann gelernt hatte.
       
       Der Spitzname deutete einerseits auf ein militärisch straff organisiertes
       Unternehmen mit höchster preußischer Disziplin. Andererseits war es aber
       auch keine Seltenheit, dass Menschen dort – heute fast undenkbar – ihr
       ganzes Arbeitsleben verbrachten und die Sozialleistungen des Unternehmens
       wie die Pensionskasse zu schätzen wussten.
       
       Aber politisch zu aufsässig, zu radikal sollten vor allem die Autoren dann
       doch nicht sein. Zumindest Kurt Tucholsky nahm seinen Hut, als er merkte,
       dass er sich als Chefredakteur der Zeitschrift ULK, der satirischen
       Wochenbeilage des Berliner Tageblatts, doch nicht so frei entfalten konnte,
       wie er es gern getan hätte. 1920 gab er seinen Posten an den
       augenscheinlich eher gemäßigten Josef Wiener-Braunsberg ab.
       
       „Bei Mosse sind einem die Ellenbogen geschnürt“, schrieb Tucholsky am 16.
       März 1919 enttäuscht an den Redakteur des Simplicissimus, Hans Erich
       Blaich. Satire, ja gerne, aber dann bitte doch möglichst gezähmt, um die
       zahlungskräftigen Inserenten nicht zu verstören und die politische
       Ausrichtung des Verlegers nicht zu unterminieren. Der einst als kaisertreu
       geltende Mosse war bekennender Anhänger der 1918 gegründeten linksliberalen
       und bürgerlichen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die radikale
       Tendenzen ablehnte.
       
       Auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee ruht Rudolf Mosse, der zu Lebzeiten
       Vorstandsmitglied der Jüdischen Reformgemeinde Berlins war, in einem
       prunkvollen Mausoleum aus rotem Granit. Es ist als Ehrengrab der Stadt
       Berlin gekennzeichnet.
       
       9 Sep 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Müller
       
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