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       # taz.de -- Antisemitismus in der Sprache: Da schwingt was mit
       
       > In die deutsche Sprache werden gern jiddische Wörter eingestreut. Oft
       > bereichert das die Sprache. Aber einige Wörter werden antisemitisch
       > aufgeladen.
       
   IMG Bild: In einem galizischen Schtetl: Die untergegangene Welt der einst fast 10 Millionen Jiddisch-Sprecher
       
       Fun tiefn harzn heißt: aus tiefstem Herzen. A bisele masl bedeutet ein
       bisschen Glück. Ein Nudnik ist ein Mensch, der nervt, weil er ständig bohrt
       und unliebsame Fragen stellt: Nu, nu, nu, sag doch mal!
       
       Mein Großvater hat [1][die jiddische Sprache], voller
       Verniedlichungsformen, voller kleiner Perlen aus dem Hebräischen, in seiner
       Kindheit in Rumänien noch mit seinen Eltern und Spielkameraden gesprochen.
       Es sind damals Zeitungen auf Jiddisch erschienen, Romane, Gedichte.
       
       Heute ist in Europa fast nichts mehr übrig von der alten Welt der einst
       fast zehn Millionen Jiddisch-Sprecher zwischen Łódź und Kiew, Riga und
       Iași, dem Ursprungsort meiner Familie. Es stehen noch alte, teils hübsch
       wiederhergerichtete Synagogen herum, aber vielerorts ist niemand mehr da,
       um in ihnen zu beten. Selbst in einer Großstadt wie Berlin ist das jüdische
       Leben heute winzig im Vergleich zu der Zeit vor dem Churbn (Jiddisch für
       Holocaust, abgeleitet vom hebräischen churban, Zerstörung).
       
       Nachdem meine Großeltern gemeinsam mit anderen der deutschen Vernichtung
       Entronnenen nach dem Krieg nach Israel emigriert waren, hat meine Mutter
       das Jiddische so wie viele jüngere Israelis eher mit negativen Dingen
       assoziiert. Der Duktus der Unterdrückten in der Diaspora. Alt und schwach.
       Etwas aus guten Gründen Zurückgelassenes. Israel Joshua Singer, der ältere
       Bruder des Literaturnobelpreisträgers von 1978, Isaac Bashevis Singer,
       betitelte seine Erinnerungen an die Jugend im Shtetl Ostpolens traurig vun
       a velt, wos is nishto mer; von einer Welt, die nicht mehr ist.
       
       Und obwohl Jiddisch anfangs noch lange die Mameloshn (die Muttersprache,
       abgeleitet von laschon, hebräisch für Zunge, Sprache) der israelischen
       Mehrheit gewesen sein dürfte, wurde jetzt gesellschaftlich erwartet, dass
       man sie hinter sich ließ. Golda Meir, Israels Ministerpräsidentin von 1969
       bis 1974, hatte einen amerikanischen Akzent. Woran sich niemand störte.
       [2][Shimon Peres] hatte einen jiddischen Akzent. Dafür musste er Spott
       einstecken.
       
       ## Tausende Redewendungen
       
       Heute wird Jiddisch im Alltag fast nur noch in ultraorthodoxen Gemeinden
       gesprochen. In Me’a She’arim zum Beispiel, dem Hunderttoreviertel im Westen
       von Jerusalem, dessen Bewohner sich auch in anderen Dingen gegen die
       Lebensweise der übrigen israelischen Gesellschaft stemmen. Oder in Crown
       Heights in New York. Aber tot ist das Jiddische deshalb auch in Europa
       nicht. Es lebt in tausend Redewendungen fort, die europäischen und
       europäischstämmigen Juden oft geläufig sind und die sie in ihre Landes-,
       und das heißt heute meist: Muttersprache einstreuen wie Slang.
       
       Fun tiefn harzn: [3][Sascha Chaimowicz, Redakteur des Zeit-Magazins,]
       beschreibt im Vorwort zum 2018 im Duden-Verlag erschienenen
       Jiddisch-Wörterbuch, wie er zunächst gar nicht glauben konnte, dass sein
       Vater, Kind polnischer Holocaust-Überlebender, einst zu Hause Jiddisch
       gesprochen habe. Der Vater habe in München „jiddische Begriffe und die
       typische Satzstellung immer eher als eine Gag-Sprache verwendet“. So kenne
       auch ich das aus meiner Kindheit in Bayern. Etzes zum Beispiel, Jiddisch
       für Tipps (abgeleitet vom hebräischen etzah, Rat) – bei dem Wort schwang
       bei uns immer der leise Spott mit, dass es sich um neunmalklugen, ein
       bisschen überflüssigen Rat handelte.
       
       So wie mancher aus dem Bayerischen nur einzelne, besonders gute Wörter wie
       Gschaftlhuber oder deppert verwendet, so werden in vielen jüdischen
       Familien zumindest einzelne jiddische Wörter weitergetragen. Die Chalosches
       bekommen. Das heißt in Ohnmacht fallen (vom hebräischen chalasch, schwach).
       Aber das verwendet mein Vater nur sarkastisch. Na, kriegst du schon die
       Chalosches?, sagt er gern, wenn ich aus seiner Sicht überreagiere. Viele
       aschkenasische, das heißt auf europäische Wurzeln zurückgehende jüdische
       Gemeinden (áschkenas ist der jiddische Name für das mittelalterliche
       Deutschland) pflegen solche Wörter noch.
       
       Was also sollte dagegen sprechen, wenn auch Nichtjuden, die diese Sprache
       für ähnlich liebenswert halten, mitmachen? Wenn auch nichtjüdische
       Sprecher*innen jiddische Wörter wie Tacheles (Klartext, kommt vom
       hebräischen tachlit) als Lehnwörter verwenden? Oder Zores (Ärger, kommt vom
       hebräischen zarot)? Oder Schlamassel (Unglück, aus der Kombination des
       deutschen schlimm und des hebräischen masal, Glück)? Oder schmusen
       (eigentlich: sich unterhalten, plaudern, auch: schmeicheln, in New York
       deshalb auch gebräuchlich als to schmooze, schwätzen; nur in der deutschen
       Umgangssprache hat es die Bedeutung von liebkosen bekommen)?
       
       ## Das treffendste Wort
       
       Der deutschen Sprache tun Anglizismen gut. Manchmal ist das treffendste
       Wort ein englisches. Genauso tun der deutschen Sprache Jiddismen gut.
       Manchmal ist das treffendste Wort – Schlamassel. Wenn es gut passt, dann
       ist das zunächst nur ein Kompliment an die Sprache, aus der das Wort
       entlehnt ist.
       
       Und es gibt sie, die Wörter aus dem Jiddischen, die nur wegen ihres Charmes
       in den deutschen Wortschatz übernommen worden sind. Meschugge etwa. Da ist
       es wie beim englischen Wort crazy, es bedeutet verrückt, klingt aber besser
       als der deutsche Konsonantensalat. Oder Chuzpe. Das bedeutet einfach nur
       Dreistigkeit. Aber der Klang! Ob man die jiddische Variante wirklich immer
       niedlicher findet, wie es der Literaturkritiker Rolf-Bernhard Essig
       nahelegt, demzufolge etwa der Satz Du hast ne Macke! (abgeleitet vom
       hebräischen maka für Hieb, Stoß, Plage) leichter hinzunehmen sei als Du
       hast nen Schlag! – Ansichtssache.
       
       Jedenfalls aber haben Tacheles, Schlamassel, meschugge gemein, dass sie im
       Deutschen heute „at face value“ genommen werden. Dass sie als Lehnwörter
       also denselben Sinngehalt ausdrücken sollen wie im Original, im
       Sprachumfeld des Jiddischen. Die deutsche Sprache nimmt diese Ausdrücke
       auf, aber sie verbiegt sie nicht. Sie verwendet sie im Sinne des Erfinders.
       Das hervorzuheben ist wichtig, meine ich. Denn darauf kommt es an.
       
       Es gibt auch den umgekehrten Fall. Und da wird es aus meiner Sicht
       problematisch. Ische bedeutet auf Jiddisch eigentlich nur Frau (vom
       hebräischen ischa, Frau). Sachlich und wertneutral. Wenn einem aber heute
       im Deutschen die Ische begegnet, dann ist die Bedeutung selten so
       wertneutral. Sondern sie hat sich verwandelt. Die Duden-Wörterbücher
       definieren Ische zwar als umgangssprachlich für „Mädchen, junge Frau (aus
       Sicht eines Jungen, jungen Mannes)“. Aber das verschweigt galant den
       abwertenden Beiklang in der deutschen Sprache. Niemand möchte eine Ische
       sein.
       
       ## Nichts Gutes
       
       Mag sein, dass Ische in derberer Runde zum Beispiel in Berlin manchmal wie
       Braut oder Perle verwendet wird: „Meene Ische meint...“ – „Ick jeh ma
       langsam heim, meene Ische denkt sich sonst noch wat...“. Es bleibt aber ein
       Ausdruck, den man der Gemeinten eher nicht ins Gesicht sagt. Das Wort Ische
       transportiert eben nicht einfach das, was ursprünglich
       Jiddisch-Sprecher*innen damit meinten. Es transportiert das, was einst
       Nichtjuden vor Augen hatten, wenn sie an eine jiddisch sprechende Frau
       dachten. Nichts Gutes.
       
       Es fällt schwer, dies noch immer als Kompliment an die Sprache zu
       verstehen, aus der dieses Wort entlehnt ist. Ich stelle mir vor, das
       italienische Wort bambini würde im Deutschen verwendet werden als Synonym
       für besonders unangenehme Kinder. Leute würden sagen: Was sind denn das für
       bambini?, und sie würden damit ausdrücken: Was sind das für furchtbare
       Blagen? – Wäre das respektvoll gegenüber der italienischen Sprache?
       
       Berufsverbote zwangen Jüdinnen und Juden bis ins 19. Jahrhundert dazu,
       wandernde Hausierer zu werden oder Viehhändler, zu wohnen hatten sie oft in
       verachteten, ghettoartigen Stadtteilen, in Judengassen oder Judenvierteln.
       Das Elend, das aus dieser Diskriminierung folgte, prägt teils bis heute den
       Blick auf die jiddische Sprache. Und wenn es dieser Blick ist und nicht der
       charmante Klang, der heute ein bestimmtes jiddisches Wort für deutsche
       Sprecher*innen interessant macht, dann macht das einen großen Unterschied.
       
       Mischpoke (im Jiddischen eigentlich mischpóche mit kurzem o), das hat in
       der Art, wie es heute im Deutschen verwendet wird, etwas Dubioses,
       Sinistres. Das ist der Grund, weshalb Deutschsprechende es heute verwenden.
       Wenn es ihnen nur um die lexikalische Bedeutung ginge (mischpóche bedeutet
       einfach Familie, abgeleitet von dem hebräischen Wort mishpacha), dann
       könnten sie auch Familie sagen. Oder Gruppe. Darum geht es aber nicht. Es
       geht um einen bestimmten Klang der Anrüchigkeit, der mitschwingt und
       mitschwingen soll.
       
       ## Kein Hinweis im Duden
       
       „Diese ganze Helmut-Schmidt-Mischpoke“ sei ihr suspekt, hat mir mal eine
       Professorin zugeraunt, die mich davon abbringen wollte, auf einer
       Hochschule der „Zeit“-Stiftung zu studieren. Eine Mischpoke ist eine
       verschworene Gruppe, die etwas im Schilde führt: Das ist die Bedeutung, die
       dieses Lehnwort transportieren soll. Und diese Bedeutung rührt allein
       woher? Aus dem Umstand, dass das Wort aus dem Jiddischen stammt. Es fällt
       schwer, das nicht als eine Herabsetzung zu sehen.
       
       Schon wahr, als [4][das internationale jüdische Sportfest Makkabiade im
       Jahr 2015 in Berlin ausgerichtet] wurde, wählten die Veranstalter von sich
       aus den Werbeslogan „Die ganze Mischpoke ist am Start“. Als Gag. Der Slogan
       hat aber nur deshalb einen Charme gehabt, weil er so offensichtlich
       ironisch mit dem negativ konnotierten Wort gespielt hat. Nur weil der
       abschätzige Gebrauch des Wortes schon so geläufig war, entstand überhaupt
       Ironie. Aus demselben Grund hat auch ein zweites Plakatmotiv gut
       funktioniert: „Gesucht wird die schnellste Ische Europas“. Im Bild: eine
       Schwimmerin.
       
       Überdeutlich wird es beim Mauscheln. Davon ist oft die Rede, wenn irgendwo
       der Verdacht geheimer Vetternwirtschaft aufkommt. Mauschelei im
       Gemeinderat. Oft wird es ohne böse Absicht verwendet. Aber das Wort ist
       entstanden im 17. Jahrhundert, es ist abgeleitet von Mauschel, der
       jiddischen Form des Vornamen Moses (auf Hebräisch: Mosche), der als
       Spottname für jüdische Händler oder auch allgemein für arme Juden
       hergenommen wurde. Als „Übername“, wie Sprachwissenschaftler*innen sagen
       (so wie später und ähnlich schmeichelhaft Ali für Türken). Mauscheln
       bedeutet „reden wie ein Jude“.
       
       Das Verb mauscheln kann man insofern mit türken vergleichen, was als
       fingieren, fälschen definiert wird („ein getürktes Dokument“). Dudens
       Universalwörterbuch fügt hier eigens einen Disclaimer hinzu, einen
       Warnhinweis. „Auch wenn die Herkunft des Verbs türken unklar ist, verbindet
       es sich doch im Bewusstsein der meisten Menschen mit der entsprechenden
       Nationenbezeichnung. Es wird besonders von türkischstämmigen
       Mitbürger(inne)n als diskriminierend empfunden und sollte deshalb im
       öffentlichen Sprachgebrauch unbedingt vermieden werden.“ Bei mauscheln
       fehlt ein solcher Hinweis. Er fehlt schmerzlich.
       
       Ähnlich das Verb schachern. Auch das liest man oft. Geschacher um
       Ministerposten, gemeint ist dann übles, feilschendes Geschäftemachen. Das
       Wort geht zurück auf das jiddische sachern. Es ist wie bei der Mischpoke:
       Sachern bedeutet im Jiddischen ganz einfach Handel treiben, ohne jeden
       abwertenden Unterton. Ohne den düsteren Beiklang. Abwertend wird es erst im
       deutschen Gebrauch als Lehnwort. Die deutsche Sprache macht daraus „handeln
       wie ein Jude“ – und meint etwas Negatives.
       
       „Welches ist das weltliche Bedürfnis des Judentums?“, hat Karl Marx in
       seiner Schrift „Zur Judenfrage“ 1844 gefragt. „Das praktische Bedürfnis,
       der Eigennutz. Welches ist die weltliche Kultur des Juden? Der Schacher.
       Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“ Marx entstammte selbst einer
       Rabbinerfamilie, auch wenn sein Vater mitsamt der Familie zum
       Protestantismus übergetreten war, als Marx zwei Jahre alt war. Aber schon
       diese wenigen Zeilen, die Marx als 26-Jähriger verfasste, zeigen die
       abfällige, judenfeindliche Stoßrichtung, die im Rest dieses Textes nicht
       besser wird.
       
       Durch die Verwendung der judenfeindlichen Vokabel schachern unterstrich der
       Nicht-mehr-Jude gewissermaßen seine Glaubwürdigkeit. Wer auch so abfällig
       gegenüber Juden klingen möchte, kann das Wort gerne verwenden. Wer die
       Geschichte des Wortes aber kennt – so wie auch die der anderen Jiddismen,
       mit denen sich die deutsche Sprache historisch über Jüdinnen und Juden
       erhoben hat –, der lässt es besser bleiben.
       
       6 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!1637293/
   DIR [2] /Nachruf-auf-Schimon-Peres/!5344541
   DIR [3] https://www.zeit.de/autoren/C/Sascha_Chaimowicz/index
   DIR [4] /Maccabi-Games-in-Berlin/!5215720
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ronen Steinke
       
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